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Das Urserntal hat sich vom Militärstandort zur Luxusdestination gewandelt.
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Am Gotthard bleibt kein Stein auf dem anderen

Das Urserntal hat sich vom Militärstandort zur Luxusdestination gewandelt. Das Militär war allgegenwärtig in Andermatt – und alle profitierten davon: die Metzgereien, die Hoteliers, welche die Offiziere beherbergten, die Baufirmen, die Bäcker.

Die Bundesbetriebe schufen Arbeit im Urserntal für viel mehr Leute, als im Tal lebten. Schon um 1880 begannen die ersten Festungsbauten. Die Bauern konnten ihre kleinen Landparzellen für Waffenplätze und Kasernen verkaufen. Zwar nannten die Urner die Eisenbahn «Brotschelm», weil die Gotthardbahn ab 1882 den Postkutschern, Sustmeistern und Säumern mit ihren Pferdekolonnen die Arbeit wegnahm. Doch die junge Eidgenossenschaft butterte ab 1885 immer mehr Geld in die Waffenplätze. Die stattlichen, kleinen Mehrfamilienhäuser mit den Wohnungen der Bundesangestellten umgeben das alte Passdorf wie die Jahresringe eines Baums: innen die Jugendstilbauten aus der Jahrhundertwende, dann elegante 1930er-Bauhaus-Häuser, heimattümelnde Chalets, die kurz nach dem Krieg entstanden, und schliesslich die nüchternen Häuser der 1950er- und 1960er-Jahre.

Jedes Dorf spricht anders

Die Walser im Urserntal, deren Wappen ein Bär und das Kreuz des Klosters Disentis zieren, lebten in ihren drei Dörfern schon immer vom Durchgangsverkehr. Trotzdem hatten sie ihre Präferenzen und Ausrichtungen, die noch immer an der Sprache erkennbar sind. In Andermatt sind es Bündner Betonungen und Ausdrücke, Hospental schaute und sprach Richtung Tessin, und in Realp hat die Sprache der Einheimischen einen leichten Walliser Klang. Doch wenn es drauf ankommt, arbeiten sie zusammen. Zwischen 1920 und 1946 wehrte sich die Talbevölkerung erfolgreich gegen einen Staudamm in der Schöllenenschlucht, der das ganze Tal überschwemmt hätte. Die gemeinsame Basis blieb das Militär. Eine Zwischensaison gab es nicht, Tourismus spielte die zweite Geige. Das Jugendstil-Grandhotel Bellevue in Andermatt zwischen dem Bahnhof und dem alten Dorf wurde, nachdem es lange noch wie andere Hotels auch dem Militär gedient hatte, in den 1980er-Jahren gesprengt. Es blieben unrealisierte Projekte und eine grosse Brache.

Dann fiel im November 1989 der Eiserne Vorhang. Eine Armeereform folgte der anderen, und jedes Mal fielen in Andermatt ein paar Hundert Übernachtungen, Brot- und Fleischlieferungen und ein paar Stellen weg. Die Zahl der Einwohner sank von 2000 auf 1300. Heute sind es wieder etwa 1500. An der Hauptstrasse gähnte die Leere, viele Häuser standen zum Verkauf.

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Der Gotthard hat viel zu erzählen – vom Durchgangsverkehr, von der Energiegewinnung und von den Festungsgeschützen, die gegen Italien zielten.

Der Retter des Urserntals

Das hat sich komplett geändert. Der Aufschwung hat einen ägyptischen Namen: Samih Sawiris. Der ägyptische Unternehmer kam um 2006 ins Tal mit der Idee eines hochalpinen Golfresorts. Er brauchte einen schönen Platz im Dorf für ein grosses Hotel und viel Bauland für weitere Hotels und Apartmenthäuser mit Eigentumswohnungen. Nicht alle glaubten ihm, doch er hat Wort gehalten. Auf der Brache des alten Grandhotels eröffnete 2013 das «The Chedi» – das neue Flagship-Hotel des Tals. Wie früher das Militär, zieht es alles mit sich – die anderen Restaurants, das lokale Gewerbe und den Ferienwohnungsmarkt. Heute ist Andermatt eine der angesagtesten Destinationen der Alpen. Samih Sawiris sah schnell ein, dass der Golfplatz allein nicht reicht. Je mehr Attraktionen sich mit Bahn, Velo oder Wanderrucksack in relativ kurzer Zeit erreichen lassen, desto besser. Ein möglichst grosses Skigebiet, obwohl anfangs in der Planung zweitrangig, war schliesslich ebenfalls unverzichtbar. Denn viele Touristen suchen sich ihre Destination anhand der Zahl der Seilbahn- und Pistenkilometer aus. Auch deshalb kam der Zusammenschluss mit den Bahnen von Sedrun und Disentis zu einer gigantischen Skiarena. Während viele Schweizer Wintersportorte in den 1980ern stehengeblieben scheinen, ist Andermatt im Heute angekommen. Der ganze Bahnhof hat durchgehend einen weichen, skischuhtauglichen Gummiboden, die Sitze der neusten Gondeln sind geheizt, und die Gondelbahn auf den Gütsch bringt auch Nichtskifahrer zu einem erstklassigen Restaurant mit angenehmen Spazierwegen mitten im Skigebiet.

Golf, Dampf und Festung

In die Vielfalt möglicher Aktivitäten passen dann auch plötzlich wieder die Verkehrsgeschichte mit ihren Strassenbauten aus mehreren Jahrhunderten, die Dampfbahn an der Furka und natürlich das Militär. Ein grosser Teil der Militäranlagen am Gotthard unterliegen nicht mehr der Geheimhaltung. So ist in der Festung Sasso da Pigna auf dem Gotthard das Museum Sasso San Gottardo entstanden. Die Festung tief im Berg wurde mitten im Zweiten Weltkrieg gebaut, zusammen mit 70 weiteren Festungsbauwerken im Rahmen der Reduit-Strategie von General Henri Guisan. Mit ihren beiden gigantischen Kanonen hätte sie vor allem den italienischen Passo San Giacomo treffen sollen, die Spitze jenes Keils aus italienischem Territorium zwischen dem Wallis und dem Tessin.

Erlebniswelt Gotthard

Heute zielt und schiesst niemand mehr. Im unteren Teil der Festung läuft man zwischen rohen Granitwänden zu riesigen unterirdischen Kavernen. Sie wurden bei der Stilllegung komplett ausgeräumt. Hier gibt es die Erlebniswelt Gotthard mit einer sehenswerten Ausstellung über Bergkristalle und deren Verwendung im italienischen Schmuckgewerbe, aber auch Konzerte und Wechselausstellungen. Im Jahr 2022 wird das Thema Johann Wolfgang Goethes Reisen durch die Schweiz sein, auf denen er auch über den Gotthard kam.

Im historischen Teil der Festung ist dagegen alles noch so, wie es die militärischen Planer erschaffen haben. Hierher kommen Besucher und Besucherinnen durch einen immer leicht ansteigenden, nicht enden wollenden Tunnel und eine enge Standseilbahn, die früher Munition transportierte. Hier sieht es aus, als wäre der letzte Wiederholungskurs gerade erst zu Ende gegangen, und eine der beiden Kanonen zielt noch immer schussbereit in Richtung Passo San Giacomo – und ist doch zum Glück nur noch Museum. Allein schon das zeigt, wie stark sich die Region seit den Zeiten des Kalten Kriegs gewandelt hat – zum Guten und Friedlichen. Am Gotthard ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Jetzt ist der Tourismus allgegenwärtig statt der Armee.

Das Postauto – der heimliche Star des Schweizer ÖV

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Die heimlichen Stars des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz sind die Postautos. Die gelben Busse sind die direkten Nachfahren der Pferdepost. Diese hatte ihren Höhepunkt mit über 3000 Gespannen im Jahr 1913, wobei etwa ein Drittel davon Schlitten waren. Die grossen gelben Landauer-Kutschen waren am Susten bis 1920 in Betrieb, bis sie vom Dieselmotor verdrängt wurden. Aber der letzte Kurs der Pferdepost fuhr erst 40 Jahre später: 1960 in Graubünden letztmals von Andeer ins Val Ferrera/Avers.

Die Paradestrecke der Postautos ist die Vierpässeroute über Grimsel-, Nufenen-, Gotthard- und Sustenpass. Sie dauert fast neun Stunden, mit halbstündigen Fotohalten. Connaisseurs sichern sich jeweils den Platz gleich vorne beim Eingang, unmittelbar vor dem Vorderrad. In Haarnadelkurven schweben sie dann über dem Abgrund, während das Rad exakt der weissen Linie des Asphaltrandes entlangrollt – Nervenkitzel mit dem Halbtaxabonnement. 

postauto.ch