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Keystone-SDA, Manuel Lopez Die Schweiz lässt sich treiben auf der Aare, hier bei Rubigen. Aber auch der Abschnitt zwischen Biel und Solothurn ist beliebt bei Gummiboot-Fans.
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Der längste Wasser­weg der Schweiz ist zu kurz geraten

Die Aare und die Juraseen sind vieles für die Schweiz – Ener­gie­quellen, Trink­was­ser­lie­fe­ran­ten und Naherholungs­gebiete. Sie sind aber auch Ver­kehrs­wege – und eine verpasste Chance.

Die Schiff­lände in Solothurn liegt lauschig an der Grenze der his­to­ri­schen Alt­stadt, beim Krumm­turm, einem mit­tel­al­ter­li­chen Fes­tungs­turm. Von hier aus führt der «längste Wasser­weg der Schweiz» die Aare hoch nach Biel. Vom Schiff aus sieht man Reiher, wie sie be­we­gungs­los ins Wasser starren – bis sie einen Fisch sehen und dann blitz­schnell zu­schnap­pen. Ab und zu springt ein Fisch, und manch­mal fliegt ein Storch die Storchen­station in Altreu an.

Weite Landschaft

Die Aare ist hier ein ge­müt­li­ches Gewässer. Da ist ihr nichts mehr an­zu­mer­ken vom wilden Gebirgs­fluss von oberhalb des Brienzer­sees. Bis zur Mün­dung in den Bieler­see hat sie schon Dutzende Wasser­tur­binen an­ge­trie­ben und bis Ende 2019 auch den Kern­reaktor in Mühleberg gekühlt. Doch hier ent­spannt sie sich, zieht sich in mehreren Schlaufen durch eines der am dich­tes­­ten be­sie­del­ten Ge­biete der Schweiz. Und doch er­scheint die Aare hier so länd­lich und un­be­rührt wie die grossen Flüsse Europas. Erst nord­östlich von Solothurn er­reicht sie dann weitere Kraft­werke – und die beiden Reaktoren von Beznau.
Der Ein­druck der Un­be­rührt­heit ändert sich aller­dings bei Bade­wetter. «An warmen Sommer­tagen sehe ich hier vor lauter Schlauch­booten und Stand-up-Paddlern das Wasser fast nicht mehr», erzählt Reto Wahlen, Schiffs­führer bei der Bielersee-Schiff­fahrt, welche die Aus­flugs­schiffe auf der Aare betreibt. Dann scheint sich das halbe Mittel­land auf der Aare treiben zu lassen, und Wahlen muss mit seinem grossen Schiff äusserst vor­sichtig na­vi­­gie­ren. Ei­gen­tlich hat er immer Vor­tritt. Doch die wenigsten Schwimmer und Gummi­­böötler wissen das. Darunter leidet dann manchmal der Fahr­plan. Doch der Schiffs­führer ist der Ein­zi­ge, der es mit der Zeit auf der Aare genau nimmt – genau nehmen muss. Alle andern ver­ges­sen sie sofort nach der Ab­fahrt in Solothurn oder Biel – oder wenn Boot und Luft­ma­trat­zen auf­ge­pumpt sind.
Der längste Wasser­weg der Schweiz er­streckt sich heute noch von Solothurn bis über die Drei-Seen-Region. Zwischen Thun und Bern ist die Aare die «Gummi­boot­strecke» der Schweiz schlecht­hin. Doch es gab eine Zeit, in welcher der Wasser­weg noch viel länger hätte werden sollen. In der Ebene von Orbe und in der Nähe von La Sarraz sind noch immer Gräben und tiefe, mit Wasser gefüllte Ein­schnitte im Wald zu sehen. Es sind die Reste des Canal d’Entreroches. Er hätte eine schiff­bare Ver­bin­dung zwischen der Nord­see und dem Mittel­meer bilden sollen und wurde von der europäischen Handels-Super­macht des 17. Jahr­hun­derts, den Niederländern, vor­an­ge­trie­ben. Sie wollten eine Ver­bin­dung ins Mittel­meer, die den weiten und ge­fähr­li­chen Weg um Spanien herum ver­mied, ihre frü­he­re Be­satzungs­macht. 1640 ging der erste Ab­schnitt mit sieben Schleu­sen zwischen dem Neuen­burger­see und der Wasser­scheide bei Entreroches in Betrieb. Acht Jahre später waren acht weitere Ki­lo­me­ter mit sechs Schleu­sen hinunter bis Cossonay fertig. Doch die noch nötigen 40 Schleu­sen auf einer Strecke von 12 Kilo­­me­tern bis zum Genfer­see bei Morges liessen sich nicht finanzieren.

Chargé pour Soleure

Die Fracht, haupt­säch­lich Fässer mit Weiss­wein aus dem Lavaux, musste des­halb auf Karren bis zum An­fang des Kanals trans­por­tiert werden. Abnehmer waren die Am­bas­sa­do­ren, die Ge­sand­ten des fran­zö­si­schen Königs, die im ka­tho­li­schen Solothurn re­si­dier­ten. Sie re­kru­tier­ten hier Söldner und pflegten einen von Versailles inspirierten Lebens­stil. Die Schiffer, welche ihre Last­kähne zu dritt an Seilen durch den Kanal zogen und dann über die Juraseen ma­nö­vrier­ten, bedienten sich ver­bo­te­ner­weise am Wein. So kamen sie reich­lich ver­laden in Solothurn an. Noch heute kennt die Romandie den Aus­druck «Chargé pour Soleure» – für «stock­­be­soffen, verladen nach Solothurn».

«Kopf einziehen!»

Als 1829 bei Chavornay ein Aquädukt ein­stürz­te, der das Flüss­chen Talent über den Kanal führte, wurde der Be­trieb des Kanals auf­ge­geben. Die Schiff­fahrt auf den drei Seen und auf der Aare litt ab Mitte des 19. Jahr­hun­derts immer mehr unter der Kon­kur­renz der Eisen­bahn. Doch die Idee eines grossen Kanals hielt sich noch lange. Bis 2006 wurde der Kanal­perimeter in den Richt­plänen frei­ge­halten, und auch eine neue Auto­bahn­brücke der A1 über den alten Kanal ist so hoch, dass grosse Schiffe darunter hin­durch­fahren könnten. Diese Höhe fehlt zwischen Solothurn und Biel manch­mal. Die Wasser­stände sind immer mal wieder so hoch, dass die Schiff­fahrt nicht möglich ist. Die Schiffe der Bielersee-Schiff­fahrt sind deshalb flach gebaut, können Masten um­legen und Führer­stände ab­senken. Bis­weilen geht das Personal übers Deck und ermahnt die Passagiere, sich hin­zu­setzen und den Kopf ein­zu­ziehen. Das macht ihn allerdings nur noch reiz­voller, den längsten Wasser­weg der Schweiz. Er führt unter der währ­schaf­ten Holz­brücke von Büren an der Aare hin­durch, durch die grosse Schleuse bei Port in den Bieler­see und von da aus über die Drei-Seen-Region. Hier ist die Schweiz gross und warm und weit­läufig und reicht fast bis ans Mittelmeer. Fast.

Bauhaus und Art déco in Biel

Biel ist unter Ar­chi­tek­tur- und Design­lieb­habern ein Geheim­tipp. Das Bahn­hof­quar­tier ist in der Schweiz das grösste zu­sam­men­häng­en­de Ensemble des Neuen Bauens. Der lässig-elegante Stil der 1920er- und 1930er-Jahre zieht sich durch die ganze Stadt, sei es beim Volks­haus, beim Art Déco Hotel Elite, bei vielen Wohn­häusern oder auch dem ehemaligen Montage­werk von General Motors (GM) zwischen Bahn­hof und See. Der riesige Komp­lex aus dem Jahr 1934 mit sehr viel Glas ist heute ein Ein­kaufs­zentrum. Doch ein ge­nauerer Blick zeigt noch immer, dass hier Autos der Marken Cadillac, Oldsmobile, Buick, Chevrolet oder Opel aus in Kisten gelieferten Bau­sätzen zu­sam­men­ge­schraubt wurden. Mit den breiten Rampen der Auto­fabrik war das Parkhaus von Anfang an im Gebäude in­te­griert – und steht heute als Ganzes unter Denkmalschutz.