Der längste Wasserweg der Schweiz ist zu kurz geraten
Die Aare und die Juraseen sind vieles für die Schweiz – Energiequellen, Trinkwasserlieferanten und Naherholungsgebiete. Sie sind aber auch Verkehrswege – und eine verpasste Chance.
Die Aare und die Juraseen sind vieles für die Schweiz – Energiequellen, Trinkwasserlieferanten und Naherholungsgebiete. Sie sind aber auch Verkehrswege – und eine verpasste Chance.
Die Schifflände in Solothurn liegt lauschig an der Grenze der historischen Altstadt, beim Krummturm, einem mittelalterlichen Festungsturm. Von hier aus führt der «längste Wasserweg der Schweiz» die Aare hoch nach Biel. Vom Schiff aus sieht man Reiher, wie sie bewegungslos ins Wasser starren – bis sie einen Fisch sehen und dann blitzschnell zuschnappen. Ab und zu springt ein Fisch, und manchmal fliegt ein Storch die Storchenstation in Altreu an.
Die Aare ist hier ein gemütliches Gewässer. Da ist ihr nichts mehr anzumerken vom wilden Gebirgsfluss von oberhalb des Brienzersees. Bis zur Mündung in den Bielersee hat sie schon Dutzende Wasserturbinen angetrieben und bis Ende 2019 auch den Kernreaktor in Mühleberg gekühlt. Doch hier entspannt sie sich, zieht sich in mehreren Schlaufen durch eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Schweiz. Und doch erscheint die Aare hier so ländlich und unberührt wie die grossen Flüsse Europas. Erst nordöstlich von Solothurn erreicht sie dann weitere Kraftwerke – und die beiden Reaktoren von Beznau.
Der Eindruck der Unberührtheit ändert sich allerdings bei Badewetter. «An warmen Sommertagen sehe ich hier vor lauter Schlauchbooten und Stand-up-Paddlern das Wasser fast nicht mehr», erzählt Reto Wahlen, Schiffsführer bei der Bielersee-Schifffahrt, welche die Ausflugsschiffe auf der Aare betreibt. Dann scheint sich das halbe Mittelland auf der Aare treiben zu lassen, und Wahlen muss mit seinem grossen Schiff äusserst vorsichtig navigieren. Eigentlich hat er immer Vortritt. Doch die wenigsten Schwimmer und Gummiböötler wissen das. Darunter leidet dann manchmal der Fahrplan. Doch der Schiffsführer ist der Einzige, der es mit der Zeit auf der Aare genau nimmt – genau nehmen muss. Alle andern vergessen sie sofort nach der Abfahrt in Solothurn oder Biel – oder wenn Boot und Luftmatratzen aufgepumpt sind.
Der längste Wasserweg der Schweiz erstreckt sich heute noch von Solothurn bis über die Drei-Seen-Region. Zwischen Thun und Bern ist die Aare die «Gummibootstrecke» der Schweiz schlechthin. Doch es gab eine Zeit, in welcher der Wasserweg noch viel länger hätte werden sollen. In der Ebene von Orbe und in der Nähe von La Sarraz sind noch immer Gräben und tiefe, mit Wasser gefüllte Einschnitte im Wald zu sehen. Es sind die Reste des Canal d’Entreroches. Er hätte eine schiffbare Verbindung zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer bilden sollen und wurde von der europäischen Handels-Supermacht des 17. Jahrhunderts, den Niederländern, vorangetrieben. Sie wollten eine Verbindung ins Mittelmeer, die den weiten und gefährlichen Weg um Spanien herum vermied, ihre frühere Besatzungsmacht. 1640 ging der erste Abschnitt mit sieben Schleusen zwischen dem Neuenburgersee und der Wasserscheide bei Entreroches in Betrieb. Acht Jahre später waren acht weitere Kilometer mit sechs Schleusen hinunter bis Cossonay fertig. Doch die noch nötigen 40 Schleusen auf einer Strecke von 12 Kilometern bis zum Genfersee bei Morges liessen sich nicht finanzieren.
Die Fracht, hauptsächlich Fässer mit Weisswein aus dem Lavaux, musste deshalb auf Karren bis zum Anfang des Kanals transportiert werden. Abnehmer waren die Ambassadoren, die Gesandten des französischen Königs, die im katholischen Solothurn residierten. Sie rekrutierten hier Söldner und pflegten einen von Versailles inspirierten Lebensstil. Die Schiffer, welche ihre Lastkähne zu dritt an Seilen durch den Kanal zogen und dann über die Juraseen manövrierten, bedienten sich verbotenerweise am Wein. So kamen sie reichlich verladen in Solothurn an. Noch heute kennt die Romandie den Ausdruck «Chargé pour Soleure» – für «stockbesoffen, verladen nach Solothurn».
Als 1829 bei Chavornay ein Aquädukt einstürzte, der das Flüsschen Talent über den Kanal führte, wurde der Betrieb des Kanals aufgegeben. Die Schifffahrt auf den drei Seen und auf der Aare litt ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr unter der Konkurrenz der Eisenbahn. Doch die Idee eines grossen Kanals hielt sich noch lange. Bis 2006 wurde der Kanalperimeter in den Richtplänen freigehalten, und auch eine neue Autobahnbrücke der A1 über den alten Kanal ist so hoch, dass grosse Schiffe darunter hindurchfahren könnten. Diese Höhe fehlt zwischen Solothurn und Biel manchmal. Die Wasserstände sind immer mal wieder so hoch, dass die Schifffahrt nicht möglich ist. Die Schiffe der Bielersee-Schifffahrt sind deshalb flach gebaut, können Masten umlegen und Führerstände absenken. Bisweilen geht das Personal übers Deck und ermahnt die Passagiere, sich hinzusetzen und den Kopf einzuziehen. Das macht ihn allerdings nur noch reizvoller, den längsten Wasserweg der Schweiz. Er führt unter der währschaften Holzbrücke von Büren an der Aare hindurch, durch die grosse Schleuse bei Port in den Bielersee und von da aus über die Drei-Seen-Region. Hier ist die Schweiz gross und warm und weitläufig und reicht fast bis ans Mittelmeer. Fast.
Biel ist unter Architektur- und Designliebhabern ein Geheimtipp. Das Bahnhofquartier ist in der Schweiz das grösste zusammenhängende Ensemble des Neuen Bauens. Der lässig-elegante Stil der 1920er- und 1930er-Jahre zieht sich durch die ganze Stadt, sei es beim Volkshaus, beim Art Déco Hotel Elite, bei vielen Wohnhäusern oder auch dem ehemaligen Montagewerk von General Motors (GM) zwischen Bahnhof und See. Der riesige Komplex aus dem Jahr 1934 mit sehr viel Glas ist heute ein Einkaufszentrum. Doch ein genauerer Blick zeigt noch immer, dass hier Autos der Marken Cadillac, Oldsmobile, Buick, Chevrolet oder Opel aus in Kisten gelieferten Bausätzen zusammengeschraubt wurden. Mit den breiten Rampen der Autofabrik war das Parkhaus von Anfang an im Gebäude integriert – und steht heute als Ganzes unter Denkmalschutz.