Sechs Jahre ist es her, doch davon weiss Justine Stäheli noch nichts, als sie an der Tür klingelt. Nur dass sie eine Leiter braucht. Und hier eine findet. Sie weiss das wegen des Bildchens am Briefkasten, das sie während eines Spaziergangs in ihrem Quartier entdeckt hat. In der Länggasse, Berns ursprünglichem Arbeiterquartier und Hort vieler Genossenschaften. Dort, wo alles begonnen hat.
Offline-Tauschbörse Pumpipumpe
Vor sechs Jahren ist die Offline-Tauschbörse Pumpipumpe an die Briefkästen gegangen. Das Prinzip: Aufkleber zeigen an, was im Haushalt an Gegenständen zu leihen ist. Einfacher geht’s kaum. «Kein Zufall», lächelt Lisa Ochsenbein, «die Länggasse war schon immer ein Ort, wo die nachbarschaftliche Hilfe selbstverständlich ist.» Lisa Ochsenbein ist die Gründerin des Vereins Pumpipumpe, und in der Länggasse ist die Idee entstanden. «Der Briefkasten ist das ideale Nutzerinterface», sagt die Industriedesignerin, die damals in einem Berner Atelier selbstständig arbeitete; gemeinsam diskutierten die Kreativen neue Projekte und Ideen und kamen fast zwangsläufig immer wieder auf das Thema der Überflussgesellschaft zu sprechen. Bei einem Abendbier war’s, Lisa Ochsenbein dachte an ihren übervollen Keller, und plötzlich war die Idee zu einer neuartigen Tauschplattform ganz ohne Internet geboren. Heute muss man sagen: Offline ist sie nicht geblieben.
Nach mehr als sechs Jahren und der Aufschaltung einer Online-Karte vieler gekennzeichneter Briefkästen soll nun bald eine App für das Smartphone erscheinen. Keine Kapitulation vor dem digitalen App-Überfluss: Die Software soll den Kerngedanken von Pumpipumpe verstärken, dass Menschen miteinander über die Kleber am Briefkasten ins Gespräch kommen, die sich nie zuvor gesprochen haben. «Darf ich deine Bohrmaschine für eine Stunde haben?» «Gerne. Und was machst du so im Leben?» Justine Stäheli ist gespannt, sie kennt die Anbieterin der Leiter nur flüchtig. Von der Idee ist sie überzeugt: «Gemeinsam geht alles besser!»
«Gemeinsam geht alles besser. In unserer Gesellschaft müssen wir besser auf unsere Ressourcen achtgeben.»
Justine StäheliBern
Teilen ist schwer
In der Konsum- und Wachstumsgesellschaft ist das «Sharen» (Teilen) von Produkten und Dienstleistungen gar nicht so einfach, denn das gemeinsame Nutzen läuft dem ständigen Mehr, Mehr, Mehr zuwider. Der Begriff «Sharing Economy» fasst unterschiedlichste unternehmerische Modelle zusammen: Die kommerziellen Netzwerke wie Uber oder Airbnb stehen unter Beschuss, weil sie durch das Nutzen fremder Ressourcen und Arbeitskraft bloss ihre unternehmerischen Risiken auslagern. Zahlreiche Kleininserate-Plattformen verlängern das Leben von Gegenständen, Nischenportale vermitteln Fachkräfte, Kinderkleider oder sogar Senioren für kleinere Arbeiten. Lokale Tauschnetze, teilweise sogar mit einer eigenen Tauschwährung (eingesetzt als Gutschrift), gibt es vielerorts seit Jahrzehnten.
Viele Projekte der «Sharing Economy», die vor ein paar Jahren noch zur Schweizer Sharingszene zählten, sind bereits wieder verkümmert. Pumpipumpe gibt es immer noch, steht aber ganz am unteren Ende der Kommerzskala, «denn wir fördern die unmittelbare, kostenlose Ausleihe», sagt Lisa Ochsenbein. Es ist jedem selbst überlassen, wie er die Ausleihen regeln will. Lisa Ochsenbeins erstes Pumpipumpe-Objekt waren Schneeschuhe. Sie hat den Aufkleber bei einem Nachbarn in der Länggasse entdeckt und kurz darauf zum ersten Mal in ihrem Leben eine Schneeschuhtour unternommen. Sie lacht: «Pumpipumpe inspiriert zu neuen Hobbys.» Oder hilft beim Montieren: Bohrmaschinen sind laut einer Umfrage das begehrteste Pumpipumpe-Objekt. Nicht etwa die namensgebende Fahrradpumpe, die man sich natürlich auch «pumpen» (Berndeutsch für «ausleihen») kann.
Die Sharing Economy ist in Fahrt. Pumpipumpe wächst nach wie vor: Fast 10 000 Briefkästen sind laut der Online-Karte mit Klebern versehen, in der Schweiz, in Deutschland, neu auch in Frankreich. Der digitale Eintrag ist freiwillig, die analoge «Klebziffer» dürfte weit höher liegen, denn Teilen boomt. Gemäss einer Studie von Deloitte (2015) greifen 55 Prozent der Schweizer bereits auf die «teilende Wirtschaft» mit Gemeinschaftssinn zurück. Andere Quellen sind zurückhaltender. Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung nutzt laut Bundesamt für Statistik Angebote der Sharing Economy. Sicher ist: Die Sharing Economy wird als aufstrebender ökonomischer Trend gehandelt. Eine Studie der Beratungsfirma PwC prognostiziert ein Wachstum des weltweiten Marktvolumens auf 325 Milliarden US-Dollar im Jahr 2025.
«Die Aufkleber von Pumpipumpe sind ein starkes Statement gegen unsere Überflussgesellschaft.»
Susan GlättliBern
Kleber als Statement
Trotzdem bestehen offensichtlich noch Berührungsängste. «Es ist selten, dass jemand klingelt, weil er oder sie die Kleber am Briefkasten gesehen hat», sagt die freie Journalistin Susan Glättli, deren Hausgemeinschaft als eine der ersten in der Länggasse damals mitmachte. Aus Überzeugung. Bis heute: «Die Kleber von Pumpipumpe sind ein starkes Statement, ein Hinweis darauf, dass wir nicht alles besitzen müssen.» Lisa Ochsenbein würde ihr beipflichten. Aus ihrer Sicht ist Pumpipumpe ein gesellschaftskritisches Projekt, das sich gegen die unbeschränkte Wirtschaftsmaxime des Wachstums richte. Salopp gefragt: «Wie viele Leitern braucht das Land?» Die effiziente Nutzung, die Pumpipumpe und andere, kommerziellere Projekte anstreben, hat einen Haken: Sie führt zum sogenannten Rebound-Effekt. Einsparungen führen früher oder später anderswo zu einem erhöhten Verbrauch. Beispielsweise sind laut Studien wegen des immer einfacheren Zugangs zu Car Sharing mehr Autos unterwegs. Andere vermuten weniger, doch die intensiver genutzten geteilten Fahrzeuge müssten häufiger ausgetauscht werden.
Teilen ist noch schwerer
Lisa Ochsenbein und ihre Mitpumperinnen und Mitpumper wollen das Bewusstsein für den Wert der Konsumgüter wecken, und als Industriedesignerin bezieht sie auch nachhaltige Aspekte mit ein. Smartere Objekte will sie und Hersteller, die sich über Materialflüsse schon beim Design Gedanken machen. Die Bohrmaschine, die nur 18 Minuten in ihrem ganzen Objektleben gebraucht wird; die Schneeschuhe, die im Keller auf Schnee warten; die Leiter, die man nur alle paar Jahre braucht. Der Strom, den man zu viel hat und statt dem Energieversorger gleich dem Nachbarn überlässt, oder die Photovoltaikpanels, die man gemeinsam anschafft und nutzt, oder Häuser, in die man gemeinsam investiert – die Sharing Economy breitet sich dank Digitalisierung und Smartphones weiter aus.
Bei Projekten wie Pumpipumpe geht es vor allem ums Vertrauen, dass die Objekte heil zurückkommen. Und dass man Fremde nach den Objekten fragen, seine Scheu überwinden muss. Susan Glättli hört ihre Sonnerie. Sie hält inne, öffnet überrascht. Draussen steht Justine Stäheli und blickt sie erwartungsvoll an. «Tschou! Du hast doch eine Leiter?» Eine rhetorische Frage. Die Antwort klebt am Briefkasten. Susan Glättli bittet sie herein und serviert einen Kaffee, eine Plauderei entwickelt sich, über die Länggasse, das Teilen, über alles, was die beiden Frauen so machen im Leben. Die Aufkleber sind mehr als nur ein Statement: ein Versprechen, jederzeit miteinander ins Gespräch zu kommen.
Gemeinschaften zum Eigenverbrauch
Das neue Energiegesetz erlaubt es: Selbst produzierter Strom kann direkt am Ort verbraucht und weiterverkauft werden – ganz ohne Einspeisung ins Stromnetz. Eine solche «Eigenverbrauchsgemeinschaft» oder neu auch «Zusammenschluss zum Eigenverbrauch» (ZEV) ist eine Chance, die Rentabilität einer Photovoltaikanlage zu erhöhen und auch Stockwerkeigentümer, Mieter sowie ganze Quartiere zu versorgen. Der Energieversorger und sein Stromnetz liefern Strom, wenn die lokale Produktion den momentanen Verbrauch nicht decken kann, oder vergüten allfällige Produktionsüberschüsse.