Die Wikinger perfektionierten die Gewinnung und den Einsatz von Holzkohleteer und machten damit einen gewaltigen gesellschaftlichen und technologischen Sprung nach vorne. «Chemie ist nicht alles, aber fast alles ist Chemie», lautete in den 1980er-Jahren ein Slogan der chemischen Industrie in der Schweiz. Damit machte sie sich nicht nur Freunde, obwohl es dafür genügend Beispiele gab.
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Mittlerweile weiss man, dass der Spruch schon für die Wikinger galt. Bei archäologischen Ausgrabungen in Dänemark gab es plötzlich neue Erkenntnisse zu bereits bekannten tiefen Gruben aus der Wikingerzeit, die etwa vom 8. bis ins späte 11. Jahrhundert dauerte. Die Gruben waren schon lange bekannt. Man ging aber bisher davon aus, dass es entweder normale Köhlerplätze für Holzkohle waren oder aber Fallgruben, um Tiere zu fangen. Eigentliche Teergruben, in denen kleinere Mengen Teer produziert wurden, gab es vor allem mitten in den Wikingerdörfern. Nun hat sich gezeigt, dass diese jüngeren und viel grösseren Anlagen ausserhalb der Siedlungen regelrechte «Industriezonen» waren, in denen Holzkohle nur ein Nebenprodukt war. Der eigentliche Grund für die chemische Industrie der Wikinger war der Holzkohleteer. Die Teerfabriken konnten vor 1000 Jahren mit einer einzigen Charge bis zu 200 Liter – oder mehr als eine ganze Badewanne voll – Teer herstellen.
Teer macht Schiffe und Fässer dicht
Die Wikinger waren exzellente Handwerker, sei es als Schmiede, Zimmerleute, Bootsbauer oder Weber. Doch sie lebten in einer Welt, in der sie umgeben waren von Wasser. Dänemark hat etwa die Dimensionen der Schweiz, doch eine 7000 Kilometer lange Küstenlinie. Jeder Landweg endet eher früher als später am Wasser. Und dann braucht’s ein Schiff. Doch bei aller Handwerkskunst, die Schiffe waren nur so gut, wie sie dicht waren. Laut überlieferten Dokumenten galt ein Schiff als seetüchtig, wenn ein einzelner Mann in der Lage war, mit einem Eimer alles eintretende Wasser wieder hinauszuschöpfen, während die andern ruderten – nicht gerade ein vertrauenerweckendes Qualitätsmerkmal. Das änderte sich mit der massenhaften Anwendung von Teer. Mit ihm wurden die Schiffe nahezu vollkommen dicht. Es brauchte keinen Schöpfer mehr, damit nicht die ganze Mannschaft absoff. Doch der Teer hatte noch ganz andere Effekte. Auch die Trinkwasserfässer waren nun dicht, Vorräte blieben trocken, ebenso die Holzkohle, die die Wikinger als leichtes, gut lagerbares Brennmaterial mitführten. Auch die Kleider hielten die Nässe besser ab, und die legendären gestreiften Segel ihrer Schiffe, in der Herstellung so aufwendig und teuer wie das ganze restliche Schiff, waren nun wetterbeständig, steif und windundurchlässig. Die Schiffe wurden damit viel schneller – und das, ganz ohne zu rudern.
Lange Reisen und eine frühe Entdeckung Amerikas dank Teer
Der grossflächige Einsatz von Holzkohleteer bedeutete einen Technologiesprung für die ganze Wikingergesellschaft. Wie wichtig Teer war, zeigt sich auch an vielen Ortsnamen in Nordeuropa. Sowohl die finnische Stadt Oulu wie auch der Stadtteil Smolny in der ehemaligen russischen Hauptstadt St. Petersburg haben ihre Namen vom Teer. Die mit Teer behandelten Schiffe und Ausrüstungsgegenstände ermöglichten viel weitere und schnellere Reisen und damit einen viel grösseren Aktionsradius – bis hin zu Atlantiküberquerungen, lange vor der angeblichen «Entdeckung Amerikas» durch die Spanier.
Die Wikinger waren vor allem Händler, Handwerker, Techniker und Seefahrer. Das wilde Räuber- und Abenteurerimage wurde ihnen erst im 19. Jahrhundert angedichtet, vor allem durch die Dichter und Komponisten der deutschen Romantik. Die nordischen Seefahrer liessen sich überall nieder, wo man mit dem Schiff hinkam, vermischten sich mit der lokalen Bevölkerung und übernahmen zum Teil deren Sprache, Kultur und Gebräuche. Besonders gut sichtbar ist das in Russland, über dessen grosse Ströme die Wikinger mit ihren immer besseren Schiffen das Land erkundeten. Viele Russinnen und Russen sehen sehr skandinavisch aus. Zudem stammen viele slawische Bezeichnungen, aber auch Eigennamen aus den skandinavischen Sprachen. Eine der ältesten bekannten Wikingersiedlungen in Russland liegt in «Staraya Ladoga» (Alt-Ladoga) am Fluss Wolchow südlich des Ladogasees und südöstlich von St. Petersburg. Der Ort war ideal, um sowohl nach Süden vorzustossen wie auch nach Norden, durch Europas grösste Seen, den Ladogasee und den Onegasee, und weiter ins Weisse Meer.
Ein genähtes Schiff für den hohen Norden
Auch hier ging nichts ohne Teer: Im hohen Norden entwickelten sich gegen Ende der grossen Wikingerzeit im 11. Jahrhundert die Schiffe weiter, insbesondere zur sogenannten «Kotch». Diese war ein geräumiges Handelsschiff und konnte wie die Wikingerschiffe gesegelt und gerudert werden. Sie war aber vor allem auch eisgängig. Gegen treibende Eisschollen war ihr Rumpf teilweise mit doppelten Holzplanken geschützt, die aber nicht zusammengenagelt waren. Wie schon bei den allerersten Wikingerschiffen wurden bei der Kotch die Planken mit Hanfschnüren zusammengenäht – und mit Teer abgedichtet. Der Rumpf glich in seiner Form dem späteren Expeditionsschiff «Fram» und den ersten Eisbrechern des frühen 20. Jahrhunderts und war dank dieser gleichzeitig robusten und elastischen Bauweise immer dicht. Und wenn trotzdem mal Wasser eintrat, liessen sich mit Holz und Teer kleinere Leckagen immer wieder schnell zupappen. Denn Chemie war auch damals nicht alles, aber Chemie machte schon damals vieles möglich.
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