Hier suchen 21 internationale Forschungspartner nach Lösungen, wie die Abfälle aus der Atomstromproduktion gelagert werden können. «Uns interessiert die Klimaerwärmung weniger. Uns interessiert die nächste Eiszeit», sagt Patrick Studer, Sprecher der Nagra, der Nationalen Genossenschaft zur Lagerung radioaktiver Abfälle. An die leichten Absurditäten des superlangfristigen Denkens gewöhnt man sich nur allmählich. Entscheidend für die Lagerung von radioaktiven Abfällen ist, dass sie nicht von einem künftigen Reuss-, Aare- oder Rhonegletscher aus der Versenkung gehobelt werden.
Das alte Kraftwerk sieht aus wie neu
Während man im Labor und in der Endlagerung alle Zeit der Welt hat, läuft die Zeit im Kernkraftwerk Mühleberg ab. Im September 2019 wurden die letzten Journalistengruppen durchs Werk geführt. Die Vorbereitungen für das Abschalten am 20. Dezember und die anschliessende Stilllegung waren schon alle im Gang. Die Mitarbeiter haben sich damit abgefunden, dass sie von Betriebs- zu Abbauspezialisten werden. Das gibt nicht weniger, sondern andere Arbeit – auch wenn es sie wurmt, ein funktionierendes Kraftwerk in bestmöglichem Zustand abreissen zu müssen. Alles in der Anlage sieht aus wie neu, poliert, geputzt, jedes Detail sagt: «Hier wurde nirgends gespart.»
Ursprünglich ging man bei der Tiefenlagerung davon aus – in einer Weiterentwicklung des «Réduit-Gedankens» –, dass der Granit der Alpen das richtige Gestein sein könnte, um die Reste der atomaren Stromproduktion für immer aufzunehmen. Deshalb gibt es auch im Grimsel ein Felslabor. Vor allem in Finnland und in Schweden, wo der Bau von Tiefenlagern für hochradioaktive Abfälle schon weiter vorangeschritten ist, stellt Granit das «Wirtsgestein der Wahl» dar, wie Georg Fiedler von Swisstopo erklärt. In Deutschland setzte man auf Salz, unter anderem im stillgelegten Salzbergwerk Asse. Das entpuppt sich nun als Fiasko. In der Salzlauge konnte Radioaktivität nachgewiesen werden, es gab Wassereinbrüche, und die Stollen drohen einzustürzen. Nun müssen alle bereits deponierten Abfälle wieder herausgeholt werden. Das liegt allerdings nicht am Salz, das Radioaktivität sehr gut eindämmt. Das Problem ist der alte menschliche Reflex, nicht mehr gebrauchte Hohlräume mit Müll zu füllen. Aus Asse wurde so viel Salz herausgeholt wie möglich, danach konnten die Stollen einstürzen. Dass da jemand später noch etwas hineinstellen könnte, war nie vorgesehen.
Neue Anlagen für die ewige Ruhe
Auch das ist deshalb eine Erkenntnis des Felslabors. Für ein Tiefenlager kommen nur komplett neu gebaute Anlagen in Frage – keine alten Bergwerke, keine natürlichen Höhlen und keine Bunkeranlagen aus dem Kalten Krieg, auch wenn das auf den ersten Blick billiger erscheint. Im Herbst 2019 läuft das Kraftwerk Mühleberg so, wie wenn es noch jahrzehntelang weiterlaufen würde. Von Abbau noch keine Spur, auch wenn überall davon gesprochen wird. Doch dem glänzenden neuen Eindruck zum Trotz: Immer mal wieder scheinen sie durch, die 1970er-Jahre – mit einem Tritel-Telefon oder der einzigen Toilette im Kontrollraum –, weil Frauen damals im Atomkraftwerk nicht vorgesehen waren. Und auch die Maschinenhalle, auf den ersten Blick so neu wie gerade eröffnet, sieht auf den zweiten Blick aus wie das Mausoleum der Schweizer Industriegeschichte. Grosse Geräte, auf denen «Gebr. Sulzer, Winterthur» steht, und die beiden Generatoren, in Gehäusen wie riesige Sarkophage, darauf eine Bronzeplatte mit dem Namen «Brown Boveri». Es tönt, als ob die beiden ehrwürdigen Herren hinter ihrer Grabplatte vor dem drohenden Abriss noch besonders laut rotieren würden.
Ton schützt die Brennstäbe
Allerdings werden zumindest Teile eines der beiden Generatoren ein zweites Leben in einem anderen Kraftwerk haben. Mit anderen Komponenten geht das nicht. Weil bei Siedewasserreaktoren der Dampf mit dem Reaktor in Berührung kommt, bevor er die Turbine dreht, sind die Turbinen kontaminiert und landen früher oder später im Tiefenlager. Als die Tunnelbohrmaschine in den 1980er-Jahren beim Bau der Autobahn A16 «Transjurane» bei St-Ursanne eine Tongesteinsschicht mit dem Namen Opalinuston anschnitt, erkannten die Geologen, dass sich ihnen hier ein ideales Spielfeld bot. Ab 1996 war es so weit, das Labor wurde eröffnet. Tongesteine sind schon lange dafür bekannt, dass sie radioaktive Stoffe zurückhalten können. Im Ton eingeschlossen und perfekt bis ins kleinste Detail erhalten, sind Fossilien des opalartig schillernden Leioceras opalinum, eines Ammoniten, der hier vor über 174 Millionen Jahren in einem nur leicht salzigen Meer lebte. Ebenso wie Fossilien gibt es auch Reste des Salzwassers im Ton. Weil das Gestein die Tiere eingeschlossen, aber nicht zerstört hat, ist es ideal, um auch die Reste des Atomzeitalters für Jahrmillionen so aufzubewahren. Allerdings gibt es in diesem Wasser auch Bakterien. Kaum erhalten sie durch eine Bohrung mehr Platz, werden sie aktiv und fressen Gas, das bei der Korrosion der Stahlbehälter entsteht, was erwünscht ist, da dies den Druck im Gestein reduziert. Allerdings könnten die Bakterien in der Nähe des metallenen Behälters auch die Korrosion fördern, und das ist ganz und gar nicht erwünscht. Nun hat sich aber gezeigt, dass das Füllmaterial Bentonit die Bakterien vom Lagerbehälter fernhält.
Langfristige Experimente, Aha-Erlebnisse und der typisch wissenschaftlich-spielerische Ansatz sind bezeichnend für die Arbeit im Felslabor, wie sie Georg Fiedler zeigt. Forscher und Forscherinnen aus Dutzenden Ländern und Organisationen nutzen hier eine gemeinsame Infrastruktur. Bisher gab es 167 Experimente, von denen 45 derzeit noch laufen. Im Kernkraftwerk dagegen weht ein anderer Geist. Hier ist es staubtrockene Sachlichkeit – absolute «Leftbrainers», würde man in den USA sagen; Leute, die ausschliesslich mit der linken, rationalen Hirnhälfte leben. Alles, was irgendwie nach Spass aussieht oder auch nur nach leisem Humor, scheint im Kraftwerk fehl am Platz. Es ist hier definitiv nicht die Welt von Homer Simpson.
Ein Zürcher Korallenriff
Vom Sicherheitsstollen des Autobahntunnels im Mont Terri aus bot sich die Möglichkeit, den Opalinuston in seiner für ein Tiefenlager schlechtestmöglichen Lage zu untersuchen: mit einer Neigung der Tonschicht von 45 Grad, die an der Oberfläche ansteht, und einer Bruchzone, die sich durch das gesamte Felslabor hindurchzieht. Hier konnte auch eine entscheidende Eigenschaft nachgewiesen werden, nämlich wie der Ton Spalten und Risse im Gestein selbstständig perfekt verschliesst.Die bestmögliche Lage ist da, wo die Sedimentschicht nie gestört wurde – auch nicht von den vielen Eiszeiten, die es seit der Bildung dieser Schichten gab. Das ist im Zürcher Weinland so, in der Region Jura Ost beim Bözberg sowie nördlich der Lägern im Zürcher Unterland – weit weg vom Granit und vom tauenden Permafrost der Alpen, in Gebieten, welche die Geologen als «langweilig» bezeichnen. Doch bis die ersten radioaktiven Abfälle im Tiefenlager ankommen, dauert es noch. Erst gehen die Abfälle aus dem stillgelegten Kernkraftwerk Mühleberg ins Zwischenlager und dann – ab etwa 2050 – ins künftige Tiefenlager. Mittlerweile ist klar, wo es sein wird: etwa 400 bis 900 Meter tief im Boden, im ungestörten Opalinuston. Mit den Sondierbohrungen konnte die Nagra das Gebiet eingrenzen – und hat in der langweiligen Geologie sogar noch etwas Aufregendes gefunden: In der Region um Zürich gab es einmal ein riesiges Korallenriff.
Schutz von drei Barrieren
Klar ist mittlerweile auch das System der Lagerung. Die Radioaktivität wird von drei Barrieren zurückgehalten, zwei künstlichen und einer natürlichen. Die abgebrannten Brennstäbe werden in Stahlbehälter mit bis zu 20 Zentimeter dicken Wänden verpackt und in Abständen von etwa drei Metern in die Stollen gestellt. Danach füllt eine speziell dafür konstruierte Maschine den Stollen möglichst dicht mit Bentonit auf, ebenfalls einem Tongestein. Die dritte Barriere ist dann der natürliche Opalinuston. Der Bentonit hat wie alle Tongesteine den Vorteil, dass er Wasser aufnimmt und dann aufquillt, sodass sich der Tunnel mit den Behältern fugenlos auffüllt. Der radioaktive Abfall wird so in den Boden integriert wie die Fossilien des Leioceras opalinum. Und genauso wie die Ammoniten werden sie dableiben, egal ob über ihnen gerade ein Gletscher Strassen und Häuser wegschleift oder ein neues Korallenriff entsteht.
Abschalten – und dann?
Nach 47 Betriebsjahren hat die BKW AG das Kernkraftwerk Mühleberg am 20. Dezember 2019 endgültig vom Netz genommen. Der Stilllegungsentscheid erfolgte schon 2013 – aus wirtschaftlichen Überlegungen. Angesichts der tiefen Strompreise erschienen der Betreiberin BKW Investitionen für den Langzeitbetrieb nicht mehr sinnvoll. Der Nachbetrieb und die Stilllegung kosten nach gegenwärtiger Planung 927 Mio. Franken. Dazu kommen insbesondere ab etwa 2040 die Kosten für die geologische Tiefenlagerung des radioaktiven Abfalls in Höhe von rund 1,4 Mrd. Franken. Bis 2030 werden alle radioaktiven Komponenten von teilweise hoch spezialisierten Firmen entfernt. Danach können die restlichen Gebäude konventionell abgerissen werden. Ab 2034 soll das Areal des Kraftwerks, idyllisch direkt an der Aare gelegen, bereit sein für eine neue Nutzung.