Neue Infrastruktur für den Veloboom
Noch nie wurden so viele Fahrräder verkauft wie in der Corona-Zeit. Das ist eine riesige Chance für einen ökologischeren Verkehr in den Städten.
Noch nie wurden so viele Fahrräder verkauft wie in der Corona-Zeit. Das ist eine riesige Chance für einen ökologischeren Verkehr in den Städten.
Geschlossene Grenzen, geschlossene Restaurants, unsichere Planung, Ferien daheim: Eine der wenigen Aktivitäten, die da problemlos und virensicher möglich sind, ist Velofahren. Viele Velohändler machen seit mehr als einem Jahr das Geschäft ihres Lebens, der Onlinehändler Galaxus verkaufte 2020 neunmal mehr Elektrovelos als im Wirtschaftsboomjahr 2019. Schon im Frühling 2021 hatten viele Händler ein schmales Angebot und Lieferschwierigkeiten.
Damit all diese Velos nach dem Abflauen der Pandemie nicht in den Kellern verstauben, braucht es eine bessere Infrastruktur. Die Neo-Velofahrer haben realisiert, wie einladend schnell angelegte, provisorische Radwege auf Hauptstrassen (sogenannte Pop-up-Radwege) und provisorisch autofreie Strassen sind. Viele Käufer dürften seit Jahren nur noch selten Velo gefahren sein. Sie werden es schnell wieder aufgeben, wenn sie sich ohne die Gefahr des Virus in Tram und Bus wieder sicherer fühlen als auf dem Drahtesel. Laura Schmid, beim Verkehrsclub der Schweiz (VCS) zuständig für Veloinfrastruktur, sagt deshalb: «Unser Mass heisst ‹8 bis 80›. Veloinfrastruktur muss nicht für Velokuriere und 20-jährige fitte Männer gebaut werden. Es müssen sich die Acht- und die Achtzigjährigen sicher fühlen.»
Laura Schmid, Zuständige Veloinfrastruktur beim Verkehrsclub der Schweiz (VCS)«Unser Mass heisst ‹8 bis 80›.»
Solche Gedanken macht man sich in den Niederlanden, Europas Modell-Veloland, seit Jahrzehnten. Sjors van Duren, Verkehrsplaner in Nijmegen, betont aber, dass das nicht immer so war. Zwar ist das Land flach und damit ideal zum Velofahren. Doch der fast permanent wehende Wind hat für Leute auf dem Velo ähnliche Effekte wie bei uns Hügel und Berge. Noch in den 1970er- und 1980er-Jahren waren niederländische Städte, ebenso wie die heute als Velodorado gefeierte dänische Hauptstadt Kopenhagen, völlig zugestellt mit Autos. Damals sprach man von der «autogerechten Stadt», mit breiten Einfallachsen bis in die Zentren. Diesen Strassen wären selbst im historischen Zentrum von Amsterdam Hunderte Häuser und einige der legendären Grachten geopfert worden. Dagegen regte sich Widerstand.
So entstand die Forderung nach der fahrrad- und fussgängergerechten Stadt. Velos bewegen auf weniger Platz sehr viel mehr Personen. Dabei geht es immer um die Umverteilung von öffentlichem Raum. Aber das heisst laut Sjors van Duren nicht «Auto gegen Velo». Denn die Neuorganisation von Verkehrsträgern und Verkehrsflächen ist kein Nullsummenspiel. Öffentlicher Raum ist zwar hart umkämpft, aber oft schlecht genutzt.
Eine gute Methode ist es laut van Duren, Quartierstrassen in Einbahn-Velowege umzubauen. Autoverkehr ist nur noch für Anwohner erlaubt, die aber gleichzeitig mehr Anwohnerparkplätze erhalten. «Dank der neuen Anwohnerparkplätze können wir oft sehr viel lokalen Widerstand und entsprechend jahrelange Verzögerungen vermeiden», sagt er. Dank dieser jahrzehntelangen planerischen Kleinarbeit fahren in Nijmegen nicht nur mehr Menschen Velo als irgendwo sonst. Auch Autofahren ist flüssiger und angenehmer geworden, weil es weniger Autos gibt. In der 180 000-Einwohner-Stadt Nijmegen ist der Anteil der Velofahrten am Gesamtverkehr in den letzten Jahren auf 60 Prozent angewachsen, vierspurige Strassen konnten auf zwei Spuren zurückgebaut werden.
Van Duren betont, dass eine Gesamtplanung wichtig sei. Zum einen müssten Routen definiert werden, etwa von der Uni zum Bahnhof oder von den Agglomerationen in die Altstädte, und dann entsprechend gebaut und signalisiert werden. Dabei muss lange nicht jede Strasse velogerecht sein, im Gegenteil. Besser sei es, wenn Verkehrsmittel getrennt werden, wenn Tempo-30-Quartierstrassen zu Velostrassen werden und die Autos die grossen Strassen für sich alleine haben. Effizient werden Routen aber nicht durch hohe Tempi, sondern durch effiziente Kreuzungen. Die Niederlande haben dafür Ampelanlagen, welche Velofahrer vor den Autos losfahren lassen, oder raffinierte Kreisel, die den Radverkehr vom Autoverkehr trennen und in denen Velofahrer Vortritt haben.
So weit ist man in der Schweiz noch nicht. Aber in vielen Städten wurde bereits viel in eine sicherere Radinfrastruktur investiert. In Bern hat die von der ehemaligen Gemeinderätin Ursula Wyss angestossene «Velo-Offensive» zu massiven Verbesserungen und einem steigenden Verkehrsanteil des Velos geführt. Ziel sind laut Stephanie Stotz, die bei der Stadt Bern für die Velo-Offensive verantwortlich ist, abgetrennte Radwege mit zweieinhalb bis drei Meter Breite, auf denen Radfahrer auch gemütlich nebeneinander fahren können – kein Vergleich mit den schmalen Radstreifen, wo Velofahrer den heissen Abgasstrom eines überholenden Lastwagens auf wenige Zentimeter Distanz am ganzen Körper spüren.
Bern hat sich wie die niederländischen Städte einen Velomasterplan erarbeitet. In der Planung für Eisenbahnen, Strassen- und Luftverkehr wird das genauso gemacht. Zudem hat man, nachdem Autofahrer und Fussgänger schon seit Jahren und Jahrzehnten gezählt werden, nun auch damit begonnen, Velofahrer zu zählen. Denn «was nicht gezählt wird, zählt nicht», betont der Stadtberner Verkehrsplaner Karl Vogel, der das Projekt Velohauptstadt leitet.
Karl Vogel und seine Mitarbeitenden kümmern sich um Knoten, Zahlen und Flächen. Ihr Paradestück ist die Velohauptroute nach Bern Wankdorf mit dem Engpass der Lorrainebrücke. Dank Zählungen weiss man, dass der Autoverkehr jährlich um ein bis zwei Prozent abnimmt. So führen jetzt nur noch drei statt vier Autospuren über die Brücke, dafür aber zwei breite Velospuren. Trotzdem gibt’s nicht mehr Stau. Mit dem besseren Veloangebot nimmt der Autoverkehr noch weiter ab. «Wir haben an vielen Orten völlig überdimensionierte Knoten, die nur so gross sind, damit zu Spitzenzeiten die dahinterliegende Kreuzung nicht überlastet wird», erklärt Karl Vogel. «Wenn nur zehn Prozent der Autofahrer umsteigen, können wir ganze Abbiegespuren aufheben und zu Velospuren machen.» Und die Autos werden noch weniger.
Besserer öffentlicher Verkehr (ÖV) und bessere Veloinfrastruktur beschleunigen diesen Prozess. Damit wird Platz frei auf den «grossen Betonplatten», den Kreuzungen. Doch solche Verbesserungen kommen immer nur Schritt für Schritt. Karl Vogels Team arbeitet deshalb mit drei Zeithorizonten: kurz-, mittel- und langfristig. Kurzfristige Lösungen können schnell – innert weniger Monate – realisiert werden, sind aber vielleicht nicht perfekt und oft nicht überall durchgehend. Mittelfristige Lösungen brauchen mehr Geld und Zeit und könnten Einsprachen auslösen. Im langen Zeithorizont sind die grossen Würfe. Da sei es wichtig, «den Schuh in der Tür zu haben» und nicht kurzfristig mögliche Lösungen zugunsten besserer, aber nur langfristig realisierbarer Lösungen aufzuschieben.
Das grösste Thema in Bern ist der kommende Bahnhofsumbau, bei dem der Veloverkehr eine wichtige Rolle spielen wird. Allerdings ist es da sehr eng – Fussgänger, Busse, Trams und Velos, alle durcheinander und schwierig auseinanderzudröseln. Zudem ist es nicht optimal, wenn sich Velofahrer die Spur mit grundsätzlich gleich schnellen Bussen teilen müssen. Einen Bus mit hundert Leuten im Nacken zu haben, ist für jede Velofahrerin ein sehr unangenehmes Gefühl. Deshalb dämpft Karl Vogel allzu grosse Erwartungen: «An diesem ÖV-Umsteigeort mit wenig Platz sind mit den aktuellen Verkehrsmengen die Optimalstandards für den Veloverkehr noch nicht erreicht.» Und Bern hat auch nicht das Privileg von Zürich, wo es unter dem Hauptbahnhof einen «vergessenen» Autobahntunnel mit zwei Röhren gibt. Er ist Teil des in den 1970er-Jahren geplanten, aber nie fertiggebauten Autobahn-«Ypsilons» und kann nun als Velotunnel genutzt werden. Aber der Berner Bahnhof als «Veloknoten» werde nach dem Umbau massiv besser sein.
Kaum gibt es mehr Velos, sind auch ihre Parkplätze ein Thema. Denn genauso wie Autos stehen auch Velos den grössten Teil des Tages herum. In den Quartieren ist das kein Problem, aber in den Zentren und vor allem an Bahnhöfen wird es eines. Doch Parkraumbewirtschaftung für Velos ist ein neues Thema. «Das ist noch nicht überall angekommen», sagt Karl Vogel. «Generalunternehmer bauen noch immer zu grosse Tiefgaragen mit unvermietbaren Autoparkplätzen, vergessen aber die Veloparkplätze.»
So versuchen die Schweizer Planer, sich immer mehr dem Vorbild der Niederlande anzunähern. Die Fahrbahnen der dortigen Radschnellwege haben eine spezielle Oberfläche, sind beleuchtet, in angenehmem Abstand zu den Strassen und teilweise so angelegt, dass die Autofahrer im Stau die schnellen Velofahrer in der Ferne vorbeisausen sehen können – als Provokation und Denkanstoss. Zudem achten die Planer darauf, dass die Strecken eine gewisse Abwechslung bieten. «Zehn Kilometer in einer flachen, gleichförmigen Landschaft gegen den Wind zu fahren, kann sehr anstrengend sein», sagt Planer Sjors van Duren. Die Strecken werden deshalb so geplant, dass sie sich geistig in einzelne Abschnitte mit Kirchen, Bäumen, Unterständen oder Pausenplätzen als Wegmarken unterteilen lassen. Auch mit psychologischen Tricks bringt geschickte Planung Leute aufs Velo: indem sie ihnen das Gefühl gibt, es sei nicht so weit, und sie dann stolz sein lässt über die lange Fahrt.
Das E-Bike hat das Verhalten der Velofahrer, aber auch die Planung der Infrastruktur massiv verändert. Damit werden die Tempi höher und die zurückgelegten Strecken länger, sodass neue Gemeinden in die Velodistanz der Städte rücken. Der Kanton Bern überlegt sich deshalb Radschnellwege zwischen Bern und Thun oder Bern und Biel. Während ausserorts die E-Bikes ihre Leistung auch auf Radwegen voll ausfahren sollen, wird innerorts ein Tempolimit von 30 Kilometern pro Stunde zum Thema. Denn die schnellen Elektrofahrräder (bis 45 km/h) sind oft gleich schnell wie die Autos. Für die langsameren «Bio-Biker» (also ohne Motor) ist es sehr unangenehm, von so schnellen Fahrzeugen überholt zu werden. Die schnellen Fahrer können dann wählen: entweder mit 30 auf dem Veloweg oder mit 45 zwischen den Autos. Die Elektrovelos vergrössern aber nicht nur die Velodistanzen, sondern verändern auch die Velotopografie. Hügelige Städte wie Zürich, Genf oder Lausanne müssen sich dank der E-Bikes nun Gedanken zu Radwegen für Routen machen, auf denen früher kaum jemand mit dem Velo unterwegs war und wo Planer und Verkehrsteilnehmer bisher nur ans Auto gedacht haben.
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