Zum Hauptinhalt springen
Postersession am GSM2019
@gsm
Messen und Events

«Es braucht für die Energiewende den internationalen Austausch auf Expertenebene»

Nach den Powertagen 2024 trifft sich die Energiebranche bereits wieder: Am Grid Service Market Symposium tauschen sich im KKL Luzern vom 1. bis 2. Juli 2024 Experten über Services und Geschäftsmodelle auf der Energienetz-Ebene aus.

Mitorganisator Christoph Imboden von der Hochschule Luzern über die künftigen Herausforderungen der Energiebranche und die Bedeutung des GSM Symposiums – ein neuer Markt entsteht.

Das Stromgesetz ist angenommen. Sie haben sich sicherlich gefreut. Was nun?

Prof. Christoph Imboden-1.png

Prof. Christoph Imboden, Mitorganisator des GSM 2024 in Luzern. 

Christoph Imboden: Die klare Mehrheit hat mich sehr gefreut. Sie ist ein deutliches Zeichen dafür, dass die Dringlichkeit und Bedeutung der Energiewende in der Bevölkerung angekommen ist. Das stellen wir auch immer wieder bei unseren Anlässen fest. So sind beispielsweise viele Gemeindevertreter motiviert und engagiert für Themen wie Elektrifizierung, Energieverteilung, nachhaltige Mobilität und Wärmeversorgung.

Aber?

Es ist ein weiter Weg, den wir noch gehen müssen.

Schaffen wir ihn?

Wir stemmen die Steigerung der Gesamtstrommenge bis 2050. Es ist machbar trotz Ausstieg aus dem Atomstrom, der rund einen Drittel der heutigen Stromproduktion ausmacht. Aber am Anfang steht die Einsicht, dass wir den Weg in Richtung Netto-Null gehen müssen. Je länger wir warten, desto teurer wird es. Für den Ausbau mit Erneuerbaren und die Sicherstellung der Versorgungssicherheit wird das neue Stromgesetz direkte, positive Auswirkungen haben, auch wenn noch weitere Faktoren eine Rolle spielen. Wir dürfen aber erwarten, dass durch das Stromgesetz die Partizipation der Bevölkerung gefördert wird.

Und auf der technischen Ebene? Das Verteilnetz ist nicht mehr das Jüngste.

Die fortschreitende Elektrifizierung, der Ausbau mit dezentralen Energiequellen – in der Schweiz ist das vor allem Photovoltaik – und die Digitalisierung sind Herausforderung und Lösung zugleich. Das Stromnetz im Transport- und Verteilbereich wird ausgebaut werden müssen. Eine Beschleunigung der Verfahren ist da zwingend.

Was ist die Rolle der Digitalisierung?

Vor allem im Verteilnetz spielt sie eine grosse Rolle, denn dadurch kann die vorhandene Netzkapazität besser ausgenutzt werden: Es muss weniger Kupfer verlegt, weniger Strassen müssen aufgerissen werden. Demselben Ziel dient die flexible Nutzung verschiebbarer Lasten. Zwei Beispiele: eine Wärmepumpe kann dann betrieben werden, und die Batterie des Elektrofahrzeuges dann geladen werden, wenn die Netzlast gering oder die Einspeisung aus Photovoltaik hoch ist.

Und die Schweiz ist ja nicht alleine in Europa.

Ja. Die Anbindung ans Europäische Netz hat für die Energieversorgung in der Schweiz eine grosse Bedeutung: Preise werden geglättet, und die Schweiz kann ihre Über- und Unterproduktion mit den Nachbarn ausgleichen. Das reduziert den Bedarf für teure zusätzliche Anlagen für den Ausgleich zwischen Produktion und Verbrauch im eigenen Land. Bedenken habe ich in einem ganz anderen Bereich. Die Zukunft der Gas-Verteilnetze ist ungewiss.

Warum ist das ein Problem?

Die Stadt Zürich beispielsweise plant, ihr Gasverteilnetz teilweise aufzugeben, um dadurch die Stadt klimafreundlicher zu gestalten. Damit steht es auch für die Verteilung klimafreundlicher Gase nicht zur Verfügung. Ähnliche Vorhaben sehen wir auch in anderen Teilen Europas. Andererseits entstehen in verschiedenen Gemeinden und Städten Energiekonzepte, bei denen neue und erweiterte Fernwärmenetze vorgesehen sind. Hier gäbe es sicher noch mehr Potenzial zur Entlastung des Stromnetzes. Das sollten wir erschliessen.

Welche Veränderungen sehen Sie auf die Branche zukommen?

In der Schweiz gibt es aktuell über 600 Energieversorger, ähnlich viele wie in Deutschland, das rund zehnmal mehr Einwohner zählt. Die kleinräumige Energielandschaft der Schweiz hat Vor- und Nachteile. Durch die sich abzeichnende weitere Liberalisierung des Strommarktes und die Möglichkeiten von Digitalisierung, Photovoltaik-Ausbau, Elektromobilität und Elektrifizierung der Wärmeversorgung positionieren sich viele Schweizer Versorger mit Dienstleistungen und neuen Angeboten dort, wo sie bereits jetzt ihre Stärken haben. Andere investieren in Glasfasernetze oder schliessen sich zusammen und zentralisieren Prozesse. Technologien wie die nachhaltige Wasserstoffproduktion, Wärmespeicher, Smart Grids, Smart Homes und Energiemanagementsysteme fordern nicht nur die kleinen Energieversorger. Mit der Zunahme der Angebotsbreite steigt die Komplexität, und für viele wird es Sinn ergeben, sich in der einen oder anderen Weise zusammenzuschliessen, um künftig die Anforderungen ihrer Kunden gut bedienen zu können.

Kehrt die Stromproduktion nun wie in den Anfängen der Elektrifizierung wieder an den Ort des Verbrauchs zurück?

Tatsächlich findet ein Wandel statt von einer zentralisierten Stromproduktion hin zu einem System mit viel dezentraler Stromproduktion. Dabei geben wir aber die Vorteile eines starken Verbundnetzes nicht auf. Häufige starke Schwankungen der Beleuchtung oder Betriebsausfälle aufgrund ungenügender Erzeugung des lokalen Kraftwerks gehören seit dem Zusammenschluss der Netze in der Schweiz in den 50ern der Vergangenheit an. Der Ausbau mit PV, Windkraftanlagen, Kleinwasserkraftwerken und anderen nahe beim Verbraucher hilft dabei nicht nur der Dekarbonisierung der Energieproduktion, sondern erhöht auch die Widerstandsfähigkeit des Gesamtsystems gegenüber Ausfällen einzelner grosser Anlagen.

Im neuen Energiesystem herrscht aber Flatterstrom vor. Das erhöht doch die Ausfallrisiken?

Es stimmt: PV und Windanlagen produzieren Strom abhängig von Wetterbedingungen, die sich nur schlecht prognostizieren und schon gar nicht zeitlich verschieben lassen. Dazu gehört auch die nur schwer zu regulierende Bandenergie. In der Summe nennen Sie das «Flatterstrom». Dabei ist alles möglich: von der «Dunkelflaute», in der weder PV noch Wind einen nennenswerten Ertrag liefern, bis zu Zeiten mit Überproduktion aus allen Produktionsanlagen und negativen Energiepreisen am Grosshandelsmarkt. Daher braucht es vermehrt Mechanismen, um Produktion und Verbrauch aufeinander abzustimmen. Dazu nutzt man die im System vorhandene oder dem System hinzugefügte Flexibilität.

Welche?

Strom, der irgendwo ins Netz eingespeist wird, muss zeitgleich an einem anderen Ort wieder entnommen werden, da das Stromnetz selber nicht als Energiespeicher wirken kann. Ist das nicht der Fall, müssen Produktion und Verbrauch aktiv ausgeglichen oder Speicher wie Batterien, Wasserstoff und Pumpspeicherkraftwerke aktiviert werden. Flexibel steuerbare Stromproduktion und steuerbare Verbraucher sind in dieser Situation besonders wertvoll. Dazu gehört auch die Sektorkopplung, welche zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wo es früher einzig die Aufgabe der grossen Produktionsanlagen war, dem Lastprofil der Verbraucher zu folgen, tragen künftig auch viele Kleinanlagen bei zum Abgleich zwischen Produktion und Verbrauch.

Müssen wir dabei technologieneutral bleiben?

Technologieentwicklungen benötigen häufig staatliche Förderung um sinnvoll stattzufinden. Das ist insbesondere dort der Fall, wo der Markt die Akteure nicht genügend oder nicht rechtzeitig belohnt. Aufs richtige Pferd zu setzen ist allerdings alles andere als trivial. Wer konnte zum Beispiel in den 1970er Jahren die Bedeutung des Internets für unsere heutige Gesellschaft erahnen? Wer die Bedeutung von KI vor fünf Jahren? Genauso ist es auch heute schwierig die künftige Bedeutung von Technologien wie Brennstoffzellen und Elektrolyseuren, thermischen Speichern, Syngas und vielen anderen vorherzusehen. Da können wir nur in Szenarien denken, denn zu viele der Rahmenbedingungen sind noch unbekannt.

Wie zuversichtlich sind Sie, was die Transformation des Energiesystems und das Erreichen der Klimaziele angeht?

Das Erreichen der Klimaziele betrachte ich als eine existentielle Aufgabe. Seit dem 18. Jahrhundert stieg der CO2-Gehalt in der Luft von 280 ppm auf heute 420 ppm, also um rund 50%. Ohne Massnahmen erreichen wir in 90 Jahren einen Gehalt von 1000 ppm. Das letzte Mal gab es so hohe CO2 Konzentrationen in der Luft vor 50 Mio Jahren, im Eozän. Damals lag die durchschnittliche Temperatur um 13° C und der Meeresspiegel um 65 m höher als heute. Die gute Nachricht: Es gab damals bereits Säugetiere. Biologisch betrachtet wäre ein Überleben also möglich. Die Erde wird das überstehen, für die Menschheit hingegen bin ich besorgt. Die Frage darf daher lediglich sein: Wie wird unsere Lösung für das Problem aussehen, mit welchem Technologiemix und welchen Verhaltensweisen wollen wir der Herausforderung begegnen?

Die Energiesystem-Transformation ist eine Investition in die Zukunft.

Die dezentrale Energieproduktion, wenn wir sie richtig anpacken, erhöht tatsächlich die Versorgungssicherheit, resp. verringert die Verletzlichkeit der Energieversorgung wie auch die Abhängigkeit vom Ausland. Der Ausfall einzelner kleiner Anlagen wiegt nicht so schwer wie der Ausfall grosser Anlagen, und die Sonne scheint, der Wind bläst auch, wenn Konflikte zwischen Staaten den Energiehandel beschränken. Vorhersagen zu Energiepreisen zu machen, ist hingegen ein Blick in die Kristallkugel. Um sich vor astronomischen Energiepreisen wie in den letzten beiden Jahren zu schützen, kann es hingegen nicht schaden, den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen.

Wie wichtig sind dabei Branchentreffen wie das Grid Service Market Symposium?

Flatterstrom, wie Sie ihn genannt haben, wird in unserem Strommix weiter zunehmen – in Europa, aber auch in der Schweiz. Damit müssen wir auf sinnvolle und kosteneffiziente Weise umgehen. Die Lösung besteht aus einem ganzen Bündel von Technologien und Massnahmen: Verschieben von Lasten entsprechend der vorhandenen Einspeisung, Befähigung von Anlagen ihr Lastprofil kurzfristig auf Abruf anzupassen, Weiterentwicklung von Speicherlösungen, intelligente und steuerbare Energiesysteme, Sektorkopplung, geeignete Gestaltung der Marktregeln, Kollaboration zwischen den Akteuren, Monitoring- und Prognosetools und einiges mehr.

Dafür müssen die Akteure doch ihre Komfortzone verlassen und vernetzter denken.

So ist es. Insellösungen werden nicht zum Ziel führen. Vielmehr müssen die verschiedenen Akteure voneinander wissen und zusammenarbeiten. Es braucht Kommunikation und neue Businessmodelle. Das ist es, was das Grid Service Market Symposium leistet: Es bringt die Experten aus Wissenschaft, Industrie, Finanzwelt und Administration zusammen, vermittelt den neusten Stand der Erkenntnisse und fördert den Austausch und die Zusammenarbeit. Das macht das GSM nun bereits zum siebten Mal.

Grid Services – also Netz-Dienstleistungen – bilden den Markt der Zukunft?

Er ist schon da und festigt sich langsam. Stochastische Stromerzeugung von Solarpanels und Windturbinen hat einen immer grösseren Anteil am Strommix. Damit steigt auch die Bedeutung von Flexibiliät und Dienstleistungen zur Stabilisierung des Netzes – auf Englisch: Grid Services. Das Themenfeld und das Business dürfte uns somit noch viele Jahre intensiv beschäftigen.

 

Über den Gesprächspartner

Prof. Christoph Imboden, Leiter Forschung am Institut für Innovation und Technologiemanagement an der Hochschule Luzern organisiert das GSM2024 zusammen mit dem European Electrolyser und Fuel Cell Forum EFCF.

 

GSM 2024

Am 1. und 2. Juli 2024 treffen sich über 60 Experten aus ganz Europa in Luzern. In über 30 Präsentationen werden die Themen Marktentwicklungen, Technologien, Internationale Projekte und Fallstudien behandelt. Die Teilnehmenden werden nicht nur informiert über den jeweils neusten Stand der Entwicklung, sondern verknüpfen sich mit möglichen Partnern für künftige gemeinsame Unternehmungen.

Informationen und Programm: https://www.gridservicemarket.com/2024

Damit diese Website korrekt funktioniert und um Ihr Erlebnis zu verbessern, verwenden wir Cookies. Für weitere Informationen lesen Sie bitte unsere Cookie-Richtlinien.

Einstellungen anpassen
  • Erforderliche Cookies ermöglichen grundlegende Funktionen. Die Website kann ohne diese Cookies nicht korrekt funktionieren und kann nur durch Änderung Ihrer Browsereinstellung deaktiviert werden.