«Strom ist so relevant wie noch nie seit der Elektrifizierung»
Mit der Annahme des Stromgesetzes an der Urne ist der Weg zu einer klimaneutralen Schweiz bestätigt worden. Was nun kommt, erklärt Experte Markus Flatt im Gespräch.
Mit der Annahme des Stromgesetzes an der Urne ist der Weg zu einer klimaneutralen Schweiz bestätigt worden. Was nun kommt, erklärt Experte Markus Flatt im Gespräch.
Markus Flatt zeigt im Gespräch auf, welches nach der Annahme des Stromgesetzes die nächsten Schritte sind.
Schweizerinnen und Schweizer haben am 9. Juni 2024 das Stromgesetz angenommen. Ist damit nun endlich alles geregelt?
Markus Flatt: Nein, so einfach ist es leider nicht: Der Energiemarkt ist komplex und er entwickelt sich dynamisch weiter. Neue Gesetzesanpassungen sind derzeit in Beratung, zum Beispiel zur Beschleunigung des Netzausbaus.
Was fehlt denn noch?
Viel. Der Weg ist noch lang. Beim Stromgesetz selbst fehlen jetzt aber vor allem noch die definitiven Verordnungen, welche die Details zu vielen Aspekten regeln. Hier hat das Parlament dem Bundesrat doch die eine oder andere «heisse Kartoffel» überlassen.
Sie sprechen die Mindestvergütungen für Solarstrom an?
Die Vorschläge des Bundesrates liegen vor, die Vernehmlassung wurde per Ende Mai abgeschlossen. Nun sind wir alle gespannt, was im Herbst definitiv verordnet wird.
Wenn Solaranlagen-Besitzer weniger für ihren Strom erhalten, ist das wohl eine erste Veränderung durch das neue Stromgesetz. Welche Veränderungen kommen noch?
Die Veränderungen finden eigentlich laufend statt, denn sie hängen nur zum Teil von der neuen Gesetzgebung ab. Nehmen Sie die zunehmend tiefen bzw. sogar negativen Strompreise an sonnigen Sommertagen, eine Folge der Transformation hin zu einer erneuerbaren Energieversorgung. Es ist daher wichtig, dass wir diese Marktsignale mehr zulassen und für neue Geschäftsmodelle nutzen. In Bezug auf das Stromgesetz werden die ersten Änderungen per 1. Januar 2025 erwartet. Die Mindestvergütung für Solarstrom könnte aber auch erst per 1. Januar 2026 angepasst werden.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Erneuerbaren haben eine unglaubliche Kostensenkung erlebt und ermöglichen nachhaltige und günstige Energiesysteme, mit denen wir zum grössten Teil auf fossile Importe verzichten können. Wir müssen die ganze Rechnung betrachten. Die Herausforderung liegt dabei in der Versorgungssicherheit. Deren Preis fehlt eigentlich.
Das ist wohl finanziell schmerzhaft, die Zeit der üppigen Vergütungen ist vorbei.
Ja, weil die Strompreise wieder deutlich sinken. Das gilt aber auch für die Verbraucher. Und es tun sich auch neue Chancen auf. Die Produzenten können dank dem Stromgesetz den Strom nicht nur selbst verbrauchen, sondern ihn neu auch lokal weiterverkaufen. Das ist der Charme der Dezentralisierung. Diese wird oft auch als «Demokratisierung» der Energieversorgung bezeichnet. Jede und jeder kann Strom produzieren. Stellen sie sich eine Welt vor, wo jede relevante Oberfläche, sei es ein Haus, ein Parkplatz oder ein Autodach, Strom produziert. Aber nicht primär, weil dies ein Business Case ist, sondern weil es einfach kaum mehr etwas kostet.
Es braucht den Energieversorger nicht länger?
Doch. Gebäude, Areale oder Quartiere werden zwar immer mehr zu Eigenversorgern. Aber sie benötigen eine «Restversorgung», weil wir ja 24/7 Strom brauchen. Das ist zunehmend herausfordernd. Dafür wird es die Energieversorger und Netzbetreiber brauchen.
Habe ich meinen heutigen Energieversorger 2050 noch?
Vielleicht schon, aber wohl nicht mehr in der heutigen Rolle als Endkundenversorger. Wir dürften längerfristig über die Digitalisierung und die Dezentralisierung der Energieversorgung in eine Welt kommen, wo einzelne Gebäude oder ganze Überbauungen vom Energieversorger gemanagt werden. Endkundinnen und -kunden müssen sich dann nicht mehr um Stromtarife oder die Optimierung des Verbrauchs kümmern. Das nehmen ihnen intelligente Geräte und deren Steuerung ab. Der Energieversorger wird daher eher auf Stufe Gebäude bzw. Quartier und damit stärker im Hintergrund agieren. Das Ziel ist meines Erachtens klar: Mit der ganzen Komplexität dieses Systems soll sich der Endkunde möglichst gar nicht mehr auseinandersetzen müssen. Einmal eingestellt, funktioniert es einfach.
Wie beim Smartphone.
(schmunzelt). Genau.
Es gibt sie schlicht nicht. Es handelt sich eher um ein politisches Konstrukt. Die Frage ist: Wie stark soll die Schweiz, insbesondere gegen Ende des Winters, von Stromimporten aus Frankreich oder Deutschland abhängig sein? Dabei müssen wir beachten: Es gibt streng genommen keine «Schweizer» Stromversorgung. Diese funktioniert nur europäisch.
Es spielt dann auch keine Rolle mehr, aus welcher Anlage der Strom kommt?
Wir werden an vielen Tagen im Jahr, gerade wenn es sonnig ist, tagsüber zuviel Strom im System haben. Dies ist heute schon teilweise der Fall und wird in den nächsten Jahren massiv zunehmen. Gleichzeitig werden wir Tage oder auch nur Stunden haben, wo der Strom eher knapp ist. Hier werden die flexiblen Kraftwerke, in der Schweiz die flexible Wasserkraft, ihre Rolle haben. Insofern brauchen wir primär mehr Flexibilität und nicht primär mehr Bandenergie, die technisch und wirtschaftlich kaum in dieses neue System passt. Es ist kein Zufall, sind 15 der 16 Wasserkraftprojekte des runden Tischs Speicherprojekte.
In denen Strom für Phasen mit weniger Strom zwischengespeichert wird.
So ist es. Hier haben wir in der Schweiz mit der Wasserkraft eine sehr gute Ausgangslage und in Kombination mit Solar- und Windenergie eine klare Strategie.
Für die meisten Menschen ist die öffentliche Diskussion kaum verständlich oder sogar verwirrend. Teilen Sie diese Ansicht?
Dies ist ein wichtiger Punkt! Wir müssen als Branche diese Komplexität schnell wieder reduzieren, indem wir kundengerechte Lösungen bringen. Aktuell sind wir mitten in der Transformation und muten unseren Kundinnen und Kunden einiges zu. Das muss und wird sich wieder ändern. Gleichzeitig ist das Interesse am Energiesystem und dessen Transformation natürlich auch eine super Chance für Aufklärung: Noch nie seit der Elektrifizierung war das Thema für die Gesellschaft so relevant wie heute.
Oft wird argumentiert, dass wir das Stromnetz so weit ausbauen müssen, damit es jede Kilowattstunde Solarstrom aufnehmen kann, die wir 2050 vielleicht produzieren. Das ist barer Unsinn und weder finanziell noch aufgrund unserer Ressourcen überhaupt realistisch. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass Strom in gewissen Stunden wertlos (oder gar kostenpflichtig) wird und nicht ins Netz eingespiesen werden kann. Dies senkt zwar etwas den Wert der Produktion, erhöht jedoch die Chance für Flexibilitäten wie Speicher oder für uns als Verbraucher. Hier braucht es neue, innovative Modelle mit den richtigen Preisanreizen. Ich würde zum Beispiel gerne mein E-Auto am Sonntag-Nachmittag bei negativen Preisen laden (lacht).
Werden die Endverbraucher in der Grundversorgung wenigstens wieder von tieferen Energiepreisen profitieren?
Die Energiepreise sind am Markt bereits wieder sehr tief, weil immer mehr günstige Erneuerbare teure fossile Spitzenlasten aus dem System drängen und die Nachfrage infolge von Eigenverbrauch, Effizienz, Klimaentwicklung und eher geringer Wirtschaftsleistung vorderhand sinkt. Für die Kundinnen und Kunden in der Grundversorgung werden die Energietarife ebenfalls sinken, aber aufgrund der langfristigen Beschaffungen der meisten Versorger erst langsam. Für 2025 erwarten wir etwa zehn Prozent tiefere Strompreise.
Was sind nun die nächsten Meilensteine auf dem Weg zur CO2-neutralen Schweiz?
Sicher die Umsetzung der geplanten Projekte im Bereich der Erneuerbaren mit Wasserkraft, Windenergie und alpiner Photovoltaik als Ergänzung zum Zubau im Mittelland. Ohne diese würde die Versorgung mittelfristig schwierig, spätestens wenn die Kernkraftwerke vom Netz gehen. In Wissenschaft, Politik und der Branche ist man sich darüber weitgehend einig. Die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke scheint mir zwar im Unterschied zum Neubau als realistisch, verschafft uns aber nur etwas mehr Zeit.
Und das bei sinkenden Marktpreisen.
Dennoch müssen wir vorwärtsmachen, doch es tönt einfacher als es ist, denn gleichzeitig benötigen wir einen sinnvollen Netzausbau auf allen Ebenen und den zeitnahen Abschluss des Smart Meter Rollouts bei allen Netzbetreibern. Denn ohne diese intelligenten Stromzähler und ihre Daten funktionieren keine intelligenten Lösungen. Und last, but definitly not least brauchen wir das Stromabkommen mit der EU. Dieses ist für unsere Versorgungssicherheit zu einem bezahlbaren Preis absolut entscheidend.
Dr. Markus Flatt ist Mitgründer und Partner beim auf die Energiebranche spezialisierten Consulting-Unternehmen EVU Partners AG. Als Experte und Gutachter ist er schwerpunktmässig für Energieversorger, Energiedienstleister sowie für Verbände und Behörden tätig. www.evupartners.ch
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