Marco Thoma, seit Jahren redet die Branche vom «Smart Grid»: Wo stehen wir punkto Digitalisierung wirklich?
Wir haben Fortschritte gemacht. Die Schweiz ist aber noch nicht dort, wo sie sein könnte. Smart Meter werden immer noch ausgerollt und erste digitale Netzlösungen erprobt. Das exponentielle Wachstum von E-Mobilität wie auch PVAnlagen ist seit über zehn Jahren im Gange, die Effekte sind aber erst seit zwei Jahren im Netz erkennbar. Als Menschen fällt es uns schwer exponentielles Wachstum richtig zu deuten. Klemmen tut es zum Teil noch in der Standardisierung von Schnittstellen, jedoch ist mit dem SmartGridready-Ansatz Licht am Horizont. Zudem fehlt oft noch das volle Bewusstsein für den Nutzen der Digitalisierung – besonders im Bereich Niederspannungsnetz.
Was bringt uns Verbrauchern denn die Digitalisierung?
Smart Meter sind das Rückgrat eines modernen Energiesystems. Sie helfen Kunden, ihren Verbrauch besser zu verstehen und zu optimieren – das spart Kosten und Energie. Versorger profitieren von detaillierteren Daten und der Möglichkeit, Engpässe frühzeitig zu erkennen. Ohne Smart Meter gibt es keine sinnvollen Prognosen der Netzauslastung des Folgetages und dementsprechend auch keine intelligente Steuerung von PVAnlagen, E-Autos oder Wärmepumpen.
Es gab bis jetzt keine gemeinsamen verbindlichen Vorgaben?
Ja. Die einzelnen Netzbetreiber ermittelten, wo ein Ausbau oder eine Stärkung des Netzes nötig war, wobei sich die Netzbetreiber selber die Szenarien und mögliche energiewirtschaftliche Entwicklungen vorgaben. Eine schweizweite Betrachtungsweise gab es nicht. Dabei wurde oft kritisiert, dass die Netzbetreiber unnötig viele Stromleitungen planen. Mit dem Szenariorahmen und den weiteren Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Um- und Ausbau der Stromnetze («Strategie Stromnetze») ändert dies.
Das Niederspannungsnetz erfüllt somit künftig eine wichtigere Funktion…
Historisch war das Niederspannungsnetz ein reines Verteilnetz ohne aktives Management. Es gab wenig Bedarf für Daten, da Energiefluss und Verbrauch stabil vorhersehbar waren. Es war zum grossen Teil unabhängig vom Wetter wie Sonneneinstrahlung und Aussentemperatur. Die Haupteinflussgrössen waren der Wochentag sowie Zeitpunkt des Sonnenauf- und -untergangs. Mit PV-Anlagen, E-Mobilität und Wärmepumpen veränderte sich das grundlegend – es gibt sehr hohe Spitzenleistungen, sowohl positiv wie auch negativ. Es liegt auf der Hand, dass zum Teil ein hoher Nachholbedarf in den Netzen in Bezug auf Messtechnik und Steuerung vorhanden ist.
Die Steuerung von Photovoltaik-Anlagen aus der Ferne ist umstritten. Und auch sonst mögen es viele Menschen nicht, wenn ihre Geräte von Dritten geregelt werden. Was entgegnen Sie?
Die Fernsteuerung von PV-Anlagen ergibt Sinn, wenn sie gezielt und nur bei Netzengpässen eingesetzt wird. Es geht nicht darum, die Produktion zu beschränken, sondern das Netz stabil zu halten und den Netzausbau zu verhindern. Um es klar zu sagen: Willkürliche Eingriffe sind weder technisch sinnvoll noch regulatorisch erwünscht.
Wo sehen Sie aber die Schwerpunkte?
Bei Lösungen, die unkompliziert eingeführt werden können und nur eine Aktualisierung der Gesetzgebung erfordern. Ich denke da etwa an die EV-Ladelösung SMATCH und die Managementlösung TIKO. Mit Joulia-Twinline können wir verschwendete Wärme beim Duschen zurückgewinnen – um aktualisierten Energievorschriften für Massnahmen zur Abwärmerückgewinnung in Schweizer Haushalten zu entsprechen. Und Starklab für das Recycling von Industrieabgasen. Ein Mindestschwellenwert für den Verbrauch von erneuerbarer oder zurückgewonnener Energie in den Zielvereinbarungen könnte einen zwingenden Bedarf für solche und ähnliche Technologien schaffen.
Was hat der Anlagenbesitzer davon?
Wer eine Solaranlage hat, profitiert langfristig von einer intelligenten Steuerung – sei es durch Eigenverbrauchsoptimierung oder Netzstützung. Das sind letztlich handfeste finanzielle Vorteile für uns alle. Das Netz muss weniger stark ausgebaut werden, was die Netzkosten tief hält.
Wie profitiert die Schweiz?
Wenn wir als Schweizer Bevölkerung auch mit Solaranlagen einen grossen Beitrag zum Reduzieren der Winterstromlücke machen wollen, dann kann es überaus sinnvoll sein, massiv in PV-Anlagen zu investieren, diese aber speziell in den Sommermonaten gezielt zu drosseln, um eine Überproduktion lokal zu verhindern. Im Winter wird das kaum nötig sein: Eine PV-Anlage produziert auch im Mittelland im Winter Strom – auch bei Bewölkung.
Braucht es im Smart Grid die klassischen zentralen Produktionen mit Gas oder Atomkraft noch?
Grosskraftwerke haben in einem Smart Grid noch ihre Berechtigung, aber ihre Rolle ändert sich. Sie liefern Grundenergie und sichern die Netzstabilität, während dezentrale Erzeugung aus Photovoltaik und Wind immer mehr übernimmt. An Wichtigkeit werden aber Pumpspeicherkraftwerke zur kurzfristigen Energiespeicherung und Speicherstauseen zur saisonalen Speicherung gewinnen. Staudammerhöhungen ergeben dabei absolut Sinn. Die Zukunft liegt in einer Mischung aus flexibler, dezentraler Produktion und steuerbaren zentralen Kraftwerken – ergänzt durch Speicherlösungen.
Neue Formen der lokalen Optimierung von Energienetzen in den Siedlungsgebieten wie Lokale Energiegemeinschaften – LEG – sind sinnvoll?
LEG dienen in erster Linie der Optimierung des Return on Investment für ihre Mitglieder, indem sie den Eigenverbrauch maximieren und Netzgebühren minimieren. Diese Ausrichtung führt jedoch dazu, dass sie nicht automatisch netzdienlich sind, da sie sich auf lokale Optimierung konzentrieren, anstatt aktiv zur Netzstabilität beizutragen. In manchen Fällen können LEGs sogar kontraproduktiv wirken, indem sie Lastspitzen verstärken oder unkontrollierte Einspeisungen erzeugen. Um negative Effekte zu vermeiden, müssen sie dringend in eine übergeordnete Steuerung integriert werden, die netzdienliches Verhalten fördert. Nur durch eine intelligente Koordination mit dem Gesamtsystem können LEGs nachhaltig zur Energiewende und Netzsicherheit beitragen und so den Netzausbau reduzieren.
Marco Thoma
Dipl. El. Ing. FH, ist beim Digitalisierungsunternehmen VIVAVIS als Geschäftsbereichsleiter Smarte Infrastruktur tätig. Er ist unter anderem für die SGOP zuständig, eine Digitalisierungslösung für den Niederspannungsbereich, die von unten die Netzbelastung reduziert.
Smart Grid: Das Netz erhält ein «Gehirn»
Energienetze verändern sich mit Hilfe von IT, allen voran das Stromnetz.
250'000 Kilometer Leitungen im Mittel- und Niederspannungsnetz, weitere 6800 Kilometer beim Höchstspannungsnetz: Das Stromnetz der Zukunft ist durch Tausende neuer Produktionen auf Hausdächern, entlang der Autobahnen und in der Landschaft gefordert – und die Datenflut wächst.
Was das Netz leisten muss
Vereinfacht gesagt: Das Netz muss den Strom in beide Richtungen transportieren und künftig Stromüberschuss speichern können. Ähnlich wie in der IT werden viele kleine Stromerzeuger zu einem «virtuellen Kraftwerk» zusammengefasst. Dynamische Preise sollen zudem dafür sorgen, dass Strom vor allem dann verbraucht wird, wenn das Netz wenig belastet ist. Nach dem Vorbild des Stromnetzes wird die Digitalisierung künftig auch weitere Energienetze erfassen.
Gebäude als neuer Akteur
Eine intelligente Vernetzung von Produktionen, Netzen und Gebäuden verringert die Ausbaukosten. Zu diesem Schluss kommt eine 2022 im Auftrag des Bundesamts für Energie entstandene. Fazit: Verhalten sich E-Auto-Fahrende beim Laden ihrer Batterie netzdienlich und werden Solaranlagen auf 70 Prozent der Anlagenleistung reduziert, sinkt der Investitionsbedarf ins Netz je nach Szenario mehr oder weniger stark.
Dazu müssen die Komponenten des Netzes über einheitliche Schnittstellen miteinander kommunizieren. Der Verein «SmartGridready» smartgridready.ch liefert das passende Label. Und mit der im neuen Stromgesetz verankerten «zentralen Datenplattform» soll der Austausch von Verbrauchs- und Produktionsdaten zwischen den Akteuren der Branche vereinfacht werden. (bha)
Die Haltung vieler Experten wie etwa Christof Bucher von der Berner Fachhochschule ist eindeutig: Photovoltaikanlagen sollen künftig nicht mehr ihren gesamten Strom ins Verteilnetz einspeisen. Dies wird als «netzdienliches Verhalten» bezeichnet. Doch was bedeutet es konkret, wenn der Energieversorger die Leistung auf 70 Prozent begrenzt? Der Ertragsverlust beträgt keineswegs 30 Prozent, da eine PV-Anlage ohnehin nur an wenigen Tagen mit voller Leistung produziert.
Laut einer Studie der ZHAW von 2014 liegt der tatsächliche Minderertrag nur zwischen 3 und 8 Prozent. Die BKW bestätigt nach eigenen Berechnungen einen Wert von 3 Prozent. Der Netzbetreiber sieht darin weitere Vorteile: Die Leistungsbegrenzung ermöglicht den Anschluss zusätzlicher Anlagen ans Netz, das nur für ein kalkuliertes Maximum ausgelegt sein muss. Gleichzeitig reduzieren sich die Investitionen ins Stromnetz, wodurch die Netzkosten für Verbraucherinnen und Verbraucher stabil bleiben.
Turhan Demiray, Leiter der Forschungsstelle Energienetze an der ETH, hat mehr als 60 Verteilnetze in verschiedenen Netzgebieten mit realen Netzdaten analysiert. Seine klare Empfehlung am diesjährigen Stromkongress: «Ein Einspeisemanagement für PV-Anlagen reduziert die Netzausbaukosten.» Zusätzlich unterstützten laut den Ergebnissen angepasstes Kundenverhalten und Digitalisierung die Lastreduzierung und -verschiebung. (bha)