Grosses Kino im Schlafwagen
Klimabewusstsein, politischer Druck und die Corona-bedingte Krise des Luftverkehrs geben den Nachtzügen neuen Schub. Die Österreichischen Bundesbahnen haben bereits komplett neue Züge bestellt.
Klimabewusstsein, politischer Druck und die Corona-bedingte Krise des Luftverkehrs geben den Nachtzügen neuen Schub. Die Österreichischen Bundesbahnen haben bereits komplett neue Züge bestellt.
Was wären Film und Literatur ohne Schlafwagen! Agatha Christie liess im Orient-Express morden, bei Alfred Hitchcock verschwindet in «The Lady Vanishes» das vermeintliche Opfer einfach aus dem Zug. Schlafwagen sind grosses Kino und Weltliteratur gleichzeitig. Und sie sind wie diese beiden Dinge auch in den letzten Jahren etwas aus der Mode gekommen. Die Deutsche Bahn und die SBB schafften ihre Nachtzüge nach und nach ab, der Talgo-Hotelzug von Zürich nach Barcelona ist verschwunden, und auch die «Kurswagen» gibt es seit ein paar Jahren nicht mehr: einzelne Schlafwagen, die an bestimmten Bahnhöfen an andere Züge gehängt wurden. Jener mit der Aufschrift «Basel–Moskau» löste immer automatisch Fernweh aus. Bis Peking bedeutete das gerade mal ein einziges Mal umsteigen.
Doch das war etwas für Bahnromantiker. Die Effizienzfanatiker bei SBB und DB rechneten mit spitzem Bleistift, verglichen ihre Preise mit jenen von EasyJet und entschieden: zu teuer, zu kompliziert, gestrichen – der legendäre Nachtzug nach Rom, aber auch die City-Night-Line-Strecken in alle Himmelsrichtungen. Denn das Rollmaterial war alt und verbraucht und hätte dringend ersetzt werden müssen, und die Kundschaft wurde auch weniger, zumal die Millennials mit Billigfliegern und Minivans gross geworden sind und deshalb lange Zugreisen kaum mehr kennen. Zudem ist es nicht jedermanns Sache, sich mit wildfremden, unterschiedlich riechenden Leuten ein Abteil zu teilen, auch wenn man mit ihnen oft nach kurzer Zeit auch Proviant, Süssigkeiten und Lebensgeschichten teilt. Eine Nacht im Sitzwagen ist eine Qual, die eigentlich nur angefressene Ökofreaks und unterfinanzierte Interrailer aushalten. Und der Liegewagen heisst Liegewagen, weil man darin zwar liegen, aber mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht schlafen kann. Die wirklichen Nachtzuglegenden ranken sich denn auch vor allem um die luxuriösen Schlafwagen, deren Tickets aber meist deutlich über jenen von Flügen liegen. Genau da haben Bahnmanager gerechnet, und es ist ein Minus herausgekommen.
Doch da waren auch die Österreichischen Bundesbahnen. In ihrer Rechnung resultierte ein Plus. Sie übernahmen ab 2016 relativ überraschend die City-Night-Line-Züge von der DB und den SBB und betreiben sie nun als Night-Jet weiter. Nicht nur das, sie bestellten sogar 13 neue Züge, mit modernen Mini-Suiten, mehr Komfort, mehr Duschen und Toiletten, Gratis-WLAN und ohne den 70er- und 80er-Charme der alten Züge. Nun sollen die Passagiere sogar im Liegewagen schlafen können. Europas Bahn-Apparatschiks belächelten den Entscheid: «Wie kann man nur dermassen falschliegen?»
Dann kam Greta. Die ÖBB lagen goldrichtig, die anderen Bahnen dagegen voll daneben und im falschen Flieger. Gemeinsam mit Flugscham wurden Nachtzüge wieder populär, und nun sollen die anderen Bahngesellschaften, teilweise sanft geschoben von ihren Wählern und Politikern, die Nachtzüge wieder ins Programm nehmen und neues Rollmaterial bestellen. Doch das wird noch ein paar Jahre dauern, während die ersten neuen österreichischen Züge schon Ende 2020 bereit sein werden. Sie werden auch via Zürich und Basel von Wien aus nach Hamburg und Berlin fahren. Aber das Netz ist logischerweise österreichzentriert. Am besten aus allen Himmelsrichtungen erschlossen ist Salzburg.
Neben den grossen staatlichen Bahnen, die nun langsam ihre Schafwagenplanung wieder aufnehmen, gibt es auch private Nachtzugbetreiber. So hat die Firma Bahntouristikexpress den bei Skandinavien-affinen Urlaubern besonders populären Autoreisezug Lörrach–Hamburg Altona von der DB übernommen, als diese den Dienst einstellen wollte. So fährt man nun im Familien-Schlafwagenabteil nordwärts, während das Auto auf den hinteren Waggons mitrollt. Das spart Treibstoff und Nerven auf den deutschen Autobahnen und bedeutet für Elektroautos eine massive Reichweitenverlängerung.
Solche Reisen wecken den Appetit auf mehr, insbesondere auf Reisen in den wirklich grossen Schlafwagenländern Russland, China, Indien, Südafrika oder den USA. Ja, gerade die USA sind eines der schönsten Schlafwagenländer. In den USA wurde die Bahninfrastruktur in den letzten Jahren massiv ausgebaut – allerdings praktisch ausschliesslich für den Güterverkehr. Deshalb haben Güterzüge immer Vortritt. Die staatliche Passagier-Bahngesellschaft Amtrak ist legendär defizitär und legendär stilvoll, mit ihren Art-déco-Bahnhöfen und 1930er-Jahre-Uniformen. Die Schlafwagenabteile sind gross und das Essen im Speisewagen besser als in vielen sehr guten Restaurants. Bei Amtrak wird nämlich nicht nur aufgewärmt, sondern richtig gekocht. Und da fährt man dann so als Passagier in einem der drei wöchentlichen Züge zwischen Houston und Los Angeles durch einen unendlich langen und doch viel zu kurzen Sergio-Leone-Western. Grosses Kino, mit Bett und Verpflegung.
Haben Sie wirklich bis hierher gelesen? Schreiben Sie mir eine Mail an schwander@infel.ch, dann schicke ich Ihnen eine Tafel Schokolade.
Autozug Lörrach–Hamburg
bahntouristikexpress.de/autoreisezug
ÖBB-Nachtzüge
nightjet.com
Russland hat das längste Schienennetz der Welt, und die meisten Langstreckenzüge sind Nachtzüge. Es gibt aber auch eine schnelle Eurocity-Verbindung mit Neigezügen zwischen St. Petersburg und Helsinki.
eng.rzd.ru
Die USA per Bahn zu entdecken, ist noch immer ein Geheimtipp.
amtrak.com
Auf der Interrail-Website sind auch alle europäischen Nachtzüge aufgeführt.
interrail.eu
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