Frutigen ist mittendrin. Das Eisenbahnerdorf an der Lötschberglinie ist ein idealer Ausgangspunkt, um die Berner Oberländer Bergwelt zu erkunden – sei es auf Ski, zu Fuss, kletternd, bikend oder Gleitschirm fliegend. Philipp Blaser, Gastgeber im Hotel National in Frutigen, erklärt den Reiz der Gegend so: «Man ist schnell in den Bergen, schnell in der Stadt, schnell am See.» Er ist in vierter Generation Hotelier in seinem über 100 Jahre alten Familienbetrieb. Dazu gehört auch eine Confiserie, mit Schwerpunkt Schokolade. Den Anfang aller Schokolade zeigt die grösste Frutiger Attraktion, das Tropenhaus. In riesigen Gewächshäusern wachsen Pfeffer und viele andere Gewürze, Bananen, Kaffeestauden und eben Kakao. Der Dschungel in den Bergen erklärt die Herkunft, die Ökologie und die Verwendung all jener Produkte, die durchschnittliche Konsumentinnen und Köche nur verarbeitet oder verpackt kennen. Gleichzeitig löst das Tropenhaus ein ökologisches Problem.
Warmes Wasser als Gefahr
Beim Bau des Lötschberg-Basistunnels stiessen die Mineure auf warmes Sickerwasser, pro Sekunde zwischen 70 und 100 Liter Wasser mit einer Temperatur von 18 Grad. So viel warmes Wasser darf, auch wenn die Menge inzwischen zurückgegangen ist, nicht in die Bergbäche gelangen. Einheimische Fische, insbesondere die gefährdeten Seeforellen, die in der Kander laichen, ertragen das nicht. Die rettende Idee kam schliesslich einem fischenden Tunnelbauingenieur. Eine Zucht für Warmwasserfische sollte die einheimischen Kaltwasserfische retten, dazu die Gewächshäuser mit all den exotischen Alltagspflanzen. Der Fisch der Wahl ist der Stör und damit auch die Produktion von edlem, schwarzem Kaviar.
Stark gefährdete Tierart
Die meisten der 26 bekannten Stör-Arten sind gefährdet, und es leben mittlerweile mehr Störe in Zuchten als in freier Wildbahn. Gezüchtet werden meist Sibirische Störe und der langsamer wachsende Russische Stör (Acipenser gueldenstaedtii). Die letzten grossen Bestände haben sich im Schwarzen und vor allem im Kaspischen Meer erhalten, auch dank rigoroser Schutzmassnahmen. Doch nach dem Zusammenbruch des Sowjetreichs wurde unkontrolliert drauflosgefischt, sehr zum Ärger der Iraner, die ihre jahrzehntelange Aufbauarbeit zerstört sahen. Mittlerweile ist der Verkauf von Kaviar aus wilden Beständen verboten, der wilde Stör so gut geschützt, wie es nur geht. Störe züchten ist allein schon deshalb eine Aufgabe, die nicht nur dem Kommerz, sondern auch der Arterhaltung dient. In Gefangenschaft in Anlagen wie jener in Frutigen wachsen die Störe schneller als in freier Wildbahn – in grossen Becken, im Freien und in der Halle mit automatischer Futterzugabe. Aber auch hier geht es langsam. Deshalb züchtet das Tropenhaus auch Felchen, Egli und Zander. Die kleinen «Stör-Fingerlinge» werden im Alter von drei Monaten bei spezialisierten Züchtern eingekauft und wachsen dann im Berner Oberländer Quellwasser langsam heran. Erst mit drei Jahren kann ihr Geschlecht bestimmt werden. Von den Männchen gibt’s zwar sehr feine Stör-Steaks, aber keinen Kaviar – das mit 2000 bis 5000 Franken pro Kilogramm weitaus teuerste Produkt des Tropenhauses.
Geduldige Investoren
Die Weibchen werden noch drei Jahre weiter gefüttert, und die Männchen kommen in ein anderes Becken, in dem sie kräftig gegen den Strom schwimmen müssen. Sie bauen Fett ab und Muskeln auf, so wie sie es im Meer und in den Flüssen tun würden. Bei den Weibchen geschieht das erst nach sechs Jahren, bevor sie geschlachtet werden. Vorläufig ist das noch nötig. Es wäre viel interessanter, wenn die Weibchen ihren Laich mehrmals abgeben könnten. Entsprechende Systeme sind in Entwicklung, aber es ist noch nicht klar, was dies für den Kaviar bedeutet und ob er ökologische und lebensmittelrechtliche Kriterien erfüllen würde. So braucht denn ein Projekt wie das Tropenhaus vor allem Geduld und Investoren mit sehr langem Atem. Ursprünglich angestossen mit Hilfe verschiedener lokaler Investoren, gehört das Tropenhaus nun dem Grossverteiler Coop, der auch gewisse Produkte vertreibt. Doch wichtig ist vor allem das Erlebnis. Der tropische Wald ist faszinierend, die Tische stehen nicht erst seit Corona weit verstreut unter Palmen- und Bananenblättern. Alles, was hier wächst, landet früher oder später auf den Tellern der Gäste. Rund 175 Pflanzenarten gibt es in den Gewächshäusern, ob Chili, Pfeffer, Paprika oder eben jene unscheinbaren Bohnen, die Basis von Philipp Blasers Schoggi-Kreationen.
Kulturfisch Stör
Der Stör war auch bei uns heimisch. Gewässerverschmutzung, Dämme und die Fischerei rotten die «Hausen» aus. Der Atlantische Stör, der es bis Basel schaffte, ist ausgestorben, der Europäische Stör lebt vereinzelt in der Ostsee. Als Knorpelfisch hat er keine Gräten, lediglich ein Stützkorsett aus Knorpelplatten. Sein Fleisch schmeckt exzellent, die Haut ist begehrt für Lederwaren, und aus den Knorpeln wird Störleim gekocht. In den ägyptischen Gräbern wurden mit Störleim geklebte Holzschatullen gefunden, die noch immer halten. Störleim, obwohl mühsam herzustellen, ist deshalb noch immer die erste Wahl der Restauratoren. Und dann ist da noch der Kaviar – der Inbegriff des Luxus. Das alles ist dem Stör zum Verhängnis geworden. Die Tiere pflanzen sich nur alle zwei bis vier Jahre fort, werden erst nach sechs bis zehn, in Einzelfällen auch erst nach 20 Jahren geschlechtsreif, leben dafür aber 60 bis 150 Jahre lang. Die vielen Störe, die jedes Jahr an den hungrigen Mäulern in Europas Städten vorbeizogen, waren deshalb immer dieselben. Einmal gefangen, waren sie weg.